Deltour-Studie 2021: J. Schüz beantwortet Fragen (Forschung)

H. Lamarr @, München, Mittwoch, 10.11.2021, 21:57 (vor 1095 Tagen) @ H. Lamarr

Die derzeit in Lyon koordinierten beiden HF-EMF-Forschungsprojekte seien a) der französische Arm der Cosmos-Studie und b) das vom Bundesamt für Strahlenschutz geförderte GliMoRi-Projekt, das die Hirntumor-Inzidenzraten der nordischen Ländern neu evaluiere (Update der Arbeit von Deltour et al., Epidemiology, 2012).

Nachdem Schüz' Mitarbeiterin Isabelle Deltour erste Ergebnisse des GliMoRi-Projekts am 27. Mai 2021 anlässlich einer Online-Veranstaltung des BfS präsentierte, war ihr Chef Gast auf der jüngsten (22.) Sitzung des Runden Tischs EMF (RTEMF), die vom BfS im Juni 2021 ebenfalls als Videokonferenz abgehalten wurde. Schüz stellte die Studie von Deltour vor und beantwortete dann Fragen der Teilnehmer. Dabei wurde u.a. ersichtlich, wie störungsanfällig Studiendesigns sein können. Hier der zugehörige Auszug aus dem RTEMF-Protokoll, beginnend mit der Studienvorstellung:

[...] Epidemiologische Studien zeigen überwiegend kein erhöhtes Risiko für Hirntumore durch Handynutzung. Einige wenige Fall-Kontroll-Studien fanden jedoch Hinweise auf erhöhte Risiken für bestimmte Subgruppen. Wenn ein solcher Zusammenhang tatsächlich ursächlich wäre, müsste sich ein erhöhtes Risiko durch Mobilfunknutzung in einem Anstieg der Inzidenzraten über die Zeit abbilden, da seit vielen Jahren über 90% der Bevölkerung ein Handy nutzt. Herr Schüz stellt die Ergebnisse eines Ressortforschungsvorhabens des BfS/BMU vor, in dem die besonders vollständigen Krebsregister der nordischen Länder wie Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden mit Bezug auf Gliome unter Männern von 1979 bis 2016 zu dieser Fragestellung ausgewertet wurden. Ergebnis ist, dass die beobachtete zeitliche Entwicklung der Hirntumorinzidenzraten nicht kompatibel mit den in einigen wenigen früheren Fall-Kontroll-Studien beobachteten Risiken durch Mobilfunknutzung ist.

Die in den damaligen Fall-Kontroll-Studien vereinzelt beobachteten erhöhten Risiken sind höchstwahrscheinlich auf methodische Probleme dieser Studien zurückzuführen. Die Ergebnisse des Ressortforschungsvorhabens passen zu den Ergebnissen der Kohortenstudien, die keine Risikoerhöhung sehen. Sehr kleine Risiken oder Risiken, die nur kleine Untergruppen der Bevölkerung betreffen, sind mit diesem sog. ökologischen (d.h. zeitlich zusammengefasste statt individuelle Daten) Studienansatz jedoch nicht auszuschließen.

Der Abschlussbericht zum Forschungsvorhaben steht noch aus, wird sich aber im Laufe des Jahres unter der Kennziffer „FM8867" in der Publikationsdatenbank des BfS (http://doris.bfs.de/jspui/) einsehen lassen [was am 10. November 2021 noch nicht der Fall war; Anm. Postingautor]. Auch die Publikation der Ergebnisse in einem wissenschaftlichen Journal ist noch für 2021 geplant. Die Teil nehmer*innen des Runden Tisches werden jeweils entsprechend informiert.

Herr Unger (Telekom) fragt anschließend zum einen nach, inwieweit die Befragungssituationen solcher Studiendesigns Einfluss auf das Antwortverhalten der Proband*innen nehmen können. Zum anderen: Wenn die durchschnittliche Entstehungszeit für Hirntumore bei circa zehn Jahren liegt, ließe sich der Mobilfunk inzwischen nicht als eine mögliche Ursache ausschließen? Wie Herr Schüz (IARC) erklärt, sind Studiendesigns wie bei INTERPHONE tatsächlich vorsichtig zu bewerten, da sich das eigene Erinnerungsvermögen und die Objektivität des individuellen Rückblicks auf die gegebenen Antworten auswirken können. Allein der Umstand, dass eine Gruppe von ihrer diagnostizierten Erkrankung weiß und die andere sich wiederum als gesund erachten kann, kann zu einer gewissen Verzerrung führen. Zusätzlich kann sich der Hirntumor auf die kognitiven Fähigkeiten - wie z.B. sich korrekt zu erinnern oder eigenständig zu antworten - negativ auswirken. Bezüglich der zurückliegenden Zeitspanne seit der flächendeckenden Einführung des Mobilfunks lässt sich aus biologischer Sicht inzwischen tatsächlich immer schwerer begründen, warum die Inzidenzraten nicht steigen, aber dennoch ein Zusammenhang zwischen Krebserkrankungen und Mobilfunk bestehen soll.

Herr Schulz (Vodafone) möchte wissen, inwieweit sich die Ergebnisse dieser Studie auf Folgestudien und Risikobewertungen auswirken. Für die Bürger*innen sind derartige Forschungsvorhaben und ihre Abschlussberichte schließlich nur schwer verständlich. Herr Schüz (IARC) verweist auf das aktuelle systematische Review der WHO zum Thema Mobilfunk und dessen Risikoeinstufung. Er hofft, dass auch diese Ergebnisse des heute vorgestellten Ressortforschungsvorhabens bei dieser Gesamtschau mit einfließen werden.

Herr Neuhäuser (BfS) erkundigt sich, inwieweit die Daten der skandinavischen Krebsregister auf Kontinentaleuropa oder andere Regionen übertragbar sind. Wie Herr Schüz (IARC) erläutert, wurden die nordischen Register u.a. gegenüber dem deutschen Register bevorzugt, weil die Datenqualität deutlich vollständiger ausfällt. Bezüglich der Übertragbarkeit ist davon auszugehen, dass sich auch mit amerikanischen und australischen Daten vergleichbare Ergebnisse erzielen lassen. Zudem gilt die mangelnde Vergleichbarkeit der Krebsregister deutlich weniger für die Sterberegister der Länder. Diese werden weitestgehend gleich geführt und auch hier lassen sich keine statistischen Zusammenhänge in der Entwicklung der Sterblichkeit seit Einführung des Mobilfunks erkennen.

Frau Ziegelberger (BfS) verweist abschließend auf die Vielzahl an unterschiedlichen Arten von Hirntumoren und fragt nach, ob das gewählte Studiendesign sich auch für die Untersuchung von Unterarten verschiedener Hirntumore und deren möglichen Mobilfunkeinflüsse anbietet. Herr Schüz (IARC) stimmt zu, dass die Komplexität der Aufgabe mit Blick auf die vielen verschiedenen Hirntumortypen nochmals steigen kann. Die technologische Entwicklung der Diagnostik beeinflusst die Fallzahlen in Subgruppen stark und dies je nach Land seit unterschiedlichen Zeitpunkten. [...]

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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