Grenzwert: Warum wird er eigentlich nicht einfach gesenkt? (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Dienstag, 15.12.2009, 02:11 (vor 5447 Tagen)

Es passierte mir vor ein paar Tagen bei einer Telefonberatung. Eine frischgebackene Sendemastengegnerin brachte mich mit der Frage aus dem Tritt:

Wieso wird bei uns eigentlich der Grenzwert nicht einfach auf 6 V/m gesenkt?

Natürlich kenne ich ein paar Argumente, die gegen eine Grenzwertsenkung auf den Schweizer Anlagewert sprechen, etwa deshalb, weil es keinen objektiven Grund für eine Grenzwertsenkung gibt und es aus Gründen der Planungssicherheit nicht zu einer Ziehung der Grenzwerte kommen darf.

Glücklich machen mich solche wenig überzeugenden Antworten aber nicht. Und mMn sind sie deshalb wenig überzeugend, weil da etwas nicht zusammen passt.

Ein Grenzwert von z.B. 10 W/m² für UMTS bedeutet, dass am äußeren Rand der Sicherheitszone eines UMTS-Senders im theoretisch ungünstigsten Fall (Volllast, alle Nachbarsender ebenfalls auf Volllast, Pfingsten fällt auf Weihnachten) eine Leistungsflussdichte von 10 W/m² auftritt. Nehmen wir an, die Sicherheitszone umfasst horizontal 6 Meter, vertikal 2 Meter und die Antennen befinden sich auf einem 30 Meter hohen frei am Waldrand stehenden Masten, dann könnte der Betreiber die Sendeleistung munter rauf- oder runterfahren, kaum jemand würde sich daran stören, weil sich eben kein Mensch dauerhaft am Rand der Sicherheitszone aufhalten kann und dort die vollen 10 W/m² abkriegt. Ein solcher Standort ist völlig unkritisch - im Vergleich zur nächsten Szene.

Szenenwechsel, die UMTS-Antenne soll sich jetzt auf irgendeinem Hausdach befinden, in 6 Meter Entfernung befinde sich im Hauptstrahl eine begehbare Dachterrasse mit Sonnenliegen. Nominell ist so ein Standort zulässig, da Menschen auf den Sonnenliegen höchstens 10 W/m² abkriegen und deswegen auch nicht schneller bräunen als ohne die Funkwellen. Und ein Betreiber rechtfertigt den hohen Wert z.B. damit, dass er in 300 Meter noch gerade so eine Tiefgarage versorgen könne, was er nach einer Grenzwertsenkung mit dem vorhandenen Sender natürlich nicht mehr könnte. Noch klar?

So, theoretisch mag dies alles richtig sein, die Realität aber sieht mMn anders aus. Denn mir ist kein einziger Fall bekannt, wo Menschen dauerhaft auch nur ansatzweise Funkfeldern in grenzwertigem Ausmaß ausgesetzt sind. Stattdessen hört und liest man nahezu ausnahmslos von drastisch niedrigeren Werten weit unterhalb von 10 mW/m², denen Anwohner von Sendeanlagen im ungünstigsten Fall ausgesetzt sind.

Sollte dies wirklich zutreffen, dann könnte die Politik z.B. eine Grenzwertsenkung auf 6 V/m (95 mW/m²) durchsetzen, ohne dass ein Betreiber irgendetwas an seinem Netz ändern müsste. Ändern müsste ein Betreiber dann nur dort, wo z.B. auf Sonnenterrassen mehr wie 95 mW/m² erreicht werden.

Wo aber ist das? Mir sind nur zwei Fälle mit wirklich hoher Belastung geläufig: Familie Kind mit maximal 70 mW/m² (UMTS, hochgerechnet auf Volllast von einem Baubiologen) und Familie Kampschulte mit 0,7 bis 244 mW/m² (GSM/UMTS gemessen vom TÜV und von M. Wuschek, Werte vermutlich ebenfalls hochgerechnet auf Volllast). Aus dieser eingeengten Sicht heraus müsste also nur ein einziger Standort verändert werden, nämlich der vor Kampschultes Wohnzimmer, um in Deutschland einen Grenzwert von 6 V/m einführen zu können! Das wäre doch ein Klacks und kein vernünftiger Grund gegen eine Grenzwertsenkung.

Vermutlich gibt es jedoch noch andere Stellen in der Republik, an denen Menschen ständig mit mehr als 6 V/m befeldet werden. Menschen die keine Sendemastengegner sind und die sich deshalb in der Szene nicht melden. Es wäre mMn aber hochinteressant zu wissen, wieviele solcher Stellen es denn tatsächlich gibt und wie es den Leuten, die dort wohnen oder arbeiten, gesundheitlich geht. Soviel ich weiß gibt es keine Untersuchung, die sich gezielt um die statistische Erfassung besonders stark exponierter Immissionsorte (>95 mW/m²) kümmert und den Gesundheitszustand dort lebender Menschen nach Auffälligkeiten hin prüft. Das Ergebnis könnte, müsste aber nicht den Sendemastengegnern Recht geben, es könnte ebenso gut sein, dass die vermeintlich stark "Gegrillten" keineswegs kränker sind als schwach "gegrillte" Nachbarn. Gemäß der von "Doris" hier verlinkten Studie von P. Frei (Seite 11) dürfte die Anzahl >6-V/m-Belasteter freilich außerordentlich gering sein.

Vor Jahren hatten wir einmal versucht, eine Liste der Top 10 oder Top 100 Feldbelasteten in Deutschland zusammen zu stellen. Der Versuch wurde aufgegeben, die Bereitschaft Werte zu melden war so gering, dass wir noch nicht einmal zehn sauber dokumentierte Fälle zusammen bekommen haben. Irgendwelchen Hausnummernwerten dubioser Herkunft und Entstehung wollten wir keine Bühne geben.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Hauptstrahl, Grenzwertsenkung, Immission, Wuschek, Anlagengrenzwert, Grenzwertdiskussion


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