Gericht bejaht Korrekturfaktoren < 1 ohne Bewilligungsverfahren (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Samstag, 19.03.2022, 22:48 (vor 885 Tagen) @ H. Lamarr

Bern, 17.12.2021 - Der Mobilfunk und insbesondere 5G spielen bei der Digitalisierung eine wichtige Rolle. Gleichzeitig bestehen Vorbehalte gegenüber dem Ausbau des 5G-Netzes mittels adaptiven Antennen. Um die Strahlung dieser neuen Antennen zu berechnen, hat das Bundesamt für Umwelt (BAFU) im Februar eine Vollzugshilfe für die Kantone und Gemeinden veröffentlicht. An seiner Sitzung vom 17. Dezember 2021 hat der Bundesrat entschieden, einzelne Elemente der Vollzugshilfe in der Verordnung über den Schutz vor nichtionisierender Strahlung (NISV) zu verankern.

Die auf den ersten Blick unspektakulären Änderungen der NISV wurden am 1. Januar 2022 wirksam und zeigten schon bald erhebliche Auswirkungen auf die Rechtsprechung in der eidgenössischen Mobilfunk-Streitfrage, ob die nachträgliche Anwendung von Korrekturfaktoren k < 1 für bereits vorläufig (mit k = 1) bewilligte adaptive Antennen mit einem ordentlichen Baubewilligungsverfahren einher gehen muss oder nicht. Das Baurekursgericht des Kantons Zürich traf zu dieser Frage am 3. März 2022 eine Entscheidung, die folgend in Auszügen vorgestellt wird.

Mit Verfügung vom 5. Oktober 2021 teilte die Abteilung Hochbau einer Gemeinde im Kanton Zürich der Swisscom AG mit, seitens der Baudirektion sei sie darüber in Kenntnis gesetzt worden, dass bei der Mobilfunk-Antennenanlage auf einem Gebäude an der M.-Strasse ohne Einholung der erforderlichen Baubewilligung das Standortdatenblatt mit Korrekturfaktoren <1 aktiviert worden sei. Die Behörde forderte Swisscom auf, umgehend den bewilligungskonformen Zustand herzustellen. Zugleich wies sie darauf hin, die Aktivierung von Standortdatenblättern mit Korrekturfaktoren <1 dürfe erst umgesetzt werden, wenn eine rechtskräftige Baubewilligung vorliege.

Mit Eingabe vom 11. Oktober 2021 erhob Swisscom fristgerecht Rekurs an das Baurekursgericht des Kantons Zürich und beantragte die Aufhebung der angefochtenen Verfügung.

Im daraufhin angelaufenen Verfahren weist die Behörde darauf hin, Mobilfunkbetreiberinnen seien von der kantonalen Baudirektion bereits am 2. März 2021 und am 8. Juli 2021 schriftlich darauf hingewiesen worden, dass die Aktivierung von Korrekturfaktoren <1 auch bei bereits bewilligten adaptiven Antennen im Kanton Zürich derzeit allein gestützt auf eine ordentliche Baubewilligung zulässig sei. Dies entspreche auch der Rechtsprechung des Baurekursgerichts des Kantons Zürich sowie des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern.

Im Rahmen der Replik legte Swisscom – unter Bezugnahme auf den Nachtrag zur Vollzugsempfehlung zur NISV sowie ein von ihr und weiteren Mobilfunkbetreiberinnen eingeholtes Gutachten von Prof. Dr. Isabelle Häner vom 24. Juni 2021 sowie den entsprechenden Nachtrag vom 4. August 2021 – erneut dar, weshalb ihres Erachtens die – unter anderem in der bisherigen Rechtsprechung des Baurekursgerichts vertretene – Ansicht, wonach die Aktivierung eines Korrekturfaktors bei bereits bewilligten adaptiven Antennen als Änderung im Sinne der NISV zu gelten habe und einer Baubewilligungspflicht unterliege, unzutreffend sei. Der Rekursgegner verwies daraufhin auf das im Auftrag der BPUK erstellte Rechtsgutachten des Instituts für Schweizerisches und Internationales Baurecht vom 7. Juni 2021 (Prof. Dr. Jean-Baptiste Zufferey et al.), welches darlege, dass aus Anhang 1 Ziff. 62 Abs. 5 NISV nicht geschlossen werden könne, dass Anpassungen einer Mobilfunkanlage, die nicht als Änderung im Sinne der NISV qualifiziert würden, nicht baubewilligungspflichtig seien.

Nach vollendeter Anhörung der Streitparteien stellte das Baurekursgericht fest: Nach dem bis zum 31. Dezember 2021 in Kraft stehenden Recht wäre der Rekurs abzuweisen gewesen, da die Rekurrentin keine Gründe namhaft machen konnte, welche hinsichtlich der bis zum 31. Dezember 2021 geltenden Rechtslage eine Änderung dieser Rechtsprechung nahelegen würden. Unbehelflich sei z.B. der Hinweis von Swisscom, wonach trotz Aktivierung des Korrekturfaktors der massgebliche Betriebszustand unverändert bleibe, sei doch die Rechtsprechung des Baurekursgerichts in dieser Frage zu einer abweichenden Einschätzung gelangt.

Infolge der am 1. Januar 2022 wirksam gewordenen NISV-Änderung galt zur Entscheidungsfindung jedoch neues Recht. Es entstand dadurch, dass Passagen aus der Vollzugsempfehlung, die keinen Rechtscharakter hat, in die NIS-Verordnung übernommen wurden und damit Rechtscharakter erlangten. Zusammengefasst kam das Rekursgericht daher zu der Entscheidung, dass der Rekurs gutzuheissen und demgemäss die Verfügung der Abteilung Hochbau vom 5. Oktober 2021 aufzuheben sei.

Dieser Entscheid ist derzeit noch nicht rechtskräftig.

Quelle: Entscheid R4.2021.00180 Baurekursgericht des Kantons Zürich

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– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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