Faktencheck: Diagnose-Funk feiert neue Stoa-Studie der EU (II) (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 05.09.2021, 17:09 (vor 1161 Tagen) @ H. Lamarr

Stoa ist integraler Bestandteil des Europäischen Parlaments. Die Lenkungsgruppe setzt sich aus 27 Mitgliedern des Europäischen Parlaments (MdEP) zusammen, die von elf ständigen Ausschüssen des Parlaments benannt werden. Der für Stoa zuständige Vizepräsident des Europäischen Parlaments (derzeit Ewa Kopacz, Polen) ist von Amts wegen Mitglied. Die Mitglieder der Stoa werden für einen verlängerbaren Zeitraum von zweieinhalb Jahren ernannt. Der Stoa-Vorstand setzt sich gegenwärtig zusammen aus der Vorsitzenden Eva Kaili, Griechenland, sowie dem ersten stellvertretenden Vorsitzenden Christian Ehler, Deutschland, und dem zweiten stellvertretenden Vorsitzenden Ivars Ijabs, Lettland. Alle drei werden von den Gruppenmitgliedern gewählt, vierte im Vorstand ist Ewa Kopacz.

Die Stoa-Lenkungsgruppe entscheidet über alle Aktivitäten von Stoa und trägt die politische Verantwortung für ihre Arbeit. In ihren Sitzungen prüfen die Gruppenmitglieder die Fortschritte und hören sich Präsentationen laufender oder kürzlich abgeschlossener Projekte an. Die Sitzungen sind öffentlich, alle Mitglieder des Europäischen Parlaments sind zur Teilnahme eingeladen, stimmberechtigt sind jedoch nur Stoa-Mitglieder.

Über den Auftrag von Stoa gibt ihre Geschäftsordnung vom 15. April 2019 präzise Auskunft. Dort heißt es gleich in Artikel 1:

STOA liefert einen Beitrag zur Diskussion und Gesetzgebungsarbeit in wissenschaftlichen und technischen Fragen von besonderer politischer Relevanz. Zu diesem Zweck versorgt STOA die Ausschüsse und sonstigen relevanten Gremien des Parlaments mit unabhängigen, qualitativ hochwertigen und unparteiischen wissenschaftlichen Studien und Informationen zur Bewertung der Auswirkung einer etwaigen Einführung oder der Förderung neuer Technologien und stellt aus technologischer Sicht die Optionen für die bestmöglichen Maßnahmen fest [...]

Wie in Teil I dieses Faktechecks begründet, sehe ich diesen Auftrag im Fall der Belpoggi-Review als nicht hinreichend erfüllt an.

Von der Idee zur Tat: Wie Stoa die 5G-Review aufgleiste

Wie Stoa von einem zunächst allgemeinen Geplänkel über künftige Projekte schließlich zu der Review "Health impact of 5G" fand, beleuchtet die folgende Chronologie, die auf den Sitzungsprotokollen beruht. Wer viel Zeit hat: Den folgenden Sitzungsterminen sind Links hinterlegt, die zu den Webstreams der jeweiligen Sitzung führen. Am Linkziel kann als Sprache der Simultanübersetzung auch Deutsch ausgewählt werden. Sollte dies nicht möglich sein, dann auf dieser Webseite die gewünschte Sitzung auswählen und auf "> Webstreaming" klicken. Dann sollte die Sprachumstellung funktionieren.

November 2019: Anlässlich einer Stoa-Sitzung über die Schwerpunktthemen der Gruppe in der kommenden neunten Amtsperiode des Parlaments erläutert die Französin Michèle Rivasi zwei Arten von Themen: Solche, die von oben nach unten kommen, etwa von Stoa oder der Kommission (z.B. der "Green Deal") und solche, die aus der Bevölkerung kommen und von Abgeordneten befürwortet werden wie das digitale Zeitalter (5G), Gesundheit und Pestizide. Die letzteren Themen spiegelten die Bedürfnisse und Sorgen der Menschen wider. Die Vorsitzende Kaili weist die Teilnehmer der Sitzung darauf hin, es gäbe bereits Vorschläge, 4G unter bestimmten Gesichtspunkten zu betrachten, etwa unter dem Gesichtspunkt Gesundheit und "Umweltauswirkungen.

Dezember 2019: Die Vorsitzende berichtet, der Bulgare Ivo Hristov und Michèle Rivasi hätten nicht nur eine Studie über Gesundheits- und Umweltauswirkungen von 5G vorgeschlagen, sondern auch einen Workshop. Denn sie befürchteten, es stünden nicht genügend Forschungsergebnisse zur Verfügung, um alle Fragen zu 5G zu beantworten. Das Stoa-Büro habe die Vorschläge geprüft und empfehle ihre Annahme als Stoa-Projekt.
Die Vorschläge werden von den 16 anwesenden Stoa-Mitgliedern genehmigt. Anwesend sind u.a. auch vier Mitarbeiter des Stoa-Referats "Scientific Forsight Unit" (Wissenschaftliche Vorausschau).

Januar 2020: Der stv. Vorsitzende Christian Ehler erinnert die zwölf anwesenden Stoa-Mitglieder daran, Michèle Rivasi und Ivo Hristov hätten einen Stoa-Workshop über die Auswirkungen der 5G-Funkkommunikation auf die Umwelt und die menschliche Gesundheit vorgeschlagen. Hristov habe zusätzlich eine Studie zu diesem Thema beantragt. Die Lenkungsgruppe habe die Vorschläge auf ihrer Sitzung im Dezember 2019 als Stoa-Projekt genehmigt. Anschließend gibt Ehler bekannt, der Workshop sei für Dienstag, den 28. April 2020 im Europäischen Parlament in Brüssel geplant. Der stv. Vorsitzende erläutert, auf der Veranstaltung würden unter anderem die vorläufigen Ergebnisse des ersten Teils der Studie vorgestellt. Die Studie bestünde aus zwei Reviews der wissenschaftlichen Literatur über die Auswirkungen von 5G auf a) die menschliche Gesundheit und b) die Umwelt. Die vollständige Studie, die zuletzt auch eine Auflistung politischer Optionen enthalten werde, soll bis Juli 2020 veröffentlicht werden [zu diesem Zeitpunkt wußte Ehler noch nicht, dass Covid-19 den Zeitplan stören wird; Anm. Postingautor]. Rivasi betont, sie halte den Workshop für sehr wichtig und stellt fest, ihre Fragen an die Europäische Kommission zu den gesundheitlichen Auswirkungen von 5G seien noch immer nicht beantwortet worden.

Mai 2020: MdEP Petra de Sutter schägt vor, den Anwendungsbereich der 5G-Studie von Gesundheits- und Umweltauswirkungen auf Fragen der Sicherheit und des Schutzes der Privatsphäre auszuweiten. Ivo Hristov und Michèle Rivasi seien damit einverstanden, eine breitere wissenschaftliche Zukunftsstudie anzustreben. Die Vorsitzende Kaili begrüßt den Vorschlag de Sutters. Sie fügte hinzu, dass die vorgeschlagenen Studien zu 5G, Künstliche Intelligenz und dem "Green Deal" die größten Prioritäten der EU in Bezug auf globale Herausforderungen abdeckten und dass der Beitrag der Stoa für die Überlegungen derjenigen, die am Gesetzgebungsverfahren beteiligt sind, äußerst wertvoll sein könnte.

Juli 2020: Die Vorsitzende Kaili weist die an der Sitzung teilnehmenden weiteren sieben Stoa-Mitglieder darauf hin, dass neben zwölf anderen neu vorgeschlagenen Projekten auch der Vorschlag von Petra de Sutter vom Stoa-Vorstand gebilligt worden sei und der Lenkungsgruppe zur Genehmigung empfohlen werde. Wenn die Projekte genehmigt werden, würden sie mit unterschiedlicher Priorität umgesetzt werden. Unter den Projekten mit höchster Priorität, die sofort nach Genehmigung in Angriff genommen werden befindet sich auch de Sutters Vorschlag, der jetzt als separate 5G-Studie zu Fragen der Sicherheit und des Schutzes der Privatsphäre angesehen wird.

November 2020: Die Vorsitzende berichtet, das Stoa-Referat "Scientific Forsight Unit" habe die Arbeit an den Spezifikationen der neu angenommenen Projekte fortgesetzt und deren Start vorbereitet. Sie betont, dass die laufenden Projekte alle im Zeitplan lägen, und informiert die anwesenden Mitglieder, unter den kürzlich genehmigten Projekte, die bis Ende 2020 oder Anfang 2021 anlaufen würden, sei u.a. auch die Studie zu Datenschutz- und Sicherheitsaspekten der 5G-Technik. Kaili fügt hinzu, der der ursprünglich für den 28. April 2020 geplant Workshop "Gesundheits- und Umweltauswirkungen von 5G" werde nun am 7. Dezember 2020 in einem virtuellen Format stattfinden, u.a. gebe es eine Präsentation der vorläufigen Ergebnisse des ersten Teils der Studie zum selben Thema zu sehen.

Fazit der Chronologie

Auf die entscheidende Frage, warum Stoa ausgerechnet Fiorella Belpoggi mit der Review über Gesundheitsfolgen von 5G beauftragt hat, gibt die Chronologie leider keine Auskunft. Ich habe mir deshalb erlaubt, Stoa am 21. August nach den Hintergründen der Beauftragung zu fragen. Antwort blieb bis heute aus. Hingegen macht die Chronologie deutlich, die langjährige Mobilfunkkritikerin Michèle Rivasi, Frankreich, und mehr noch der zuvor nicht aktenkundig gewordene Bulgare Ivo Hristov sind die treibende Kraft hinter der Review gewesen. Gemäß diesem Bericht (MdEP: Kommission "unverantwortlich" in Bezug auf 5G-Gesundheitsrisiken) war es tatsächlich Hristov, der Stoa die fragliche Review erfolgreich vorgeschlagen hat.

Begleitinformationen

Noch vor Veröffentlichung der beiden beauftragten 5G-Studien (Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit) organisierte Stoa am 31. Mai 2021 eine gut 100 Minuten dauernde Online-Präsentation der Ergebnisse durch die Autoren (Webstream der Veranstaltung). Die junge Stoa-Vorsitzende Eva Kaili hielt die Begrüßungsrede, Prolog und Epilog waren Michèle Rivasi vorbehalten. Fiorella Belpoggi stellte als erste Referentin ab 10:28 Uhr ihre 5G-Review über Gesundheitsauswirkungen vor (Präsentation), anschließend tat ab 10:50 Uhr Arno Thielens, Universität Gent, Belgien, dasselbe mit seiner 5G-Review über Umweltauswirkungen. Thielens' Präsentation gibt es hier. Ab 11:09 Uhr stellten Julia Köberlein und Bernhard Scholz, Kontextlab, München, eine von ihnen entwickelte "Wissenskarte zu 5G" vor (Präsentation). Ab 11:22 folgten Stellungnahmen zu den Präsentationen von Joachim Schüz, IARC, Kurt Straif, Barcelona Institute for Global Health und Martin Vácha, Masaryk Universität, Brünn, Tschechien.

Wird fortgesetzt ...

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
STOA, Schüz, Faktencheck, Straif, Rivasi, Belpoggi, Green Deal, Hristov, Vácha, Lenkungsgruppe, Webstream


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