Vorsicht Bürger-Community: Stuss von unten (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Dienstag, 25.04.2017, 11:57 (vor 2751 Tagen)

Auf den ersten Blick scheint die Idee von "Bürgerreportern" brillant zu sein: Bürger informieren Bürger vor Ort, die Plattform dafür wird von dritter Seite zur Verfügung gestellt. Eine Win-Win-Win-Situation, wir freuen uns. Die Praxis aber zeigt den Haken bei dieser Idee: Denn wenn Hinz & Kunz dilettantisch über Sachthemen berichten, ist der Verbreitung von Stuss Tür und Tor geöffnet, Stammtischparolen oder platte Verlautbarungen aus dubiosen Quellen entweichen dann in die große weite Welt. Schlimmer noch: Sind es keine unbedarften Laien, die nur vor sich hin plappern, sondern Zeitgenossen mit ganz konkreten Absichten, dann ist von Schleichwerbung bis hin zur gezielten Manipulation der öffentlichen Meinung alles drin.

Beispiel einer solchen Bürger-Community ist die Plattform meinanzeiger.de, die seit 2011 auch Bürgerreportern eine Plattform bietet. Einer dieser Hobby-Journalisten ist Joachim Kerst, Erfurt, der die jüngste Meldung über einen Handy-Hirntumor zum Anlass nimmt, seinen Frust über die deutsche Politik abzulassen. Kerst lässt keinerlei differenzierte Kenntnis der Mobilfunkdebatte erkennen, er verbreitet lediglich die üblichen Behauptungen, Mutmaßungen und Verdächtigungen aus Kreisen der organisierten Mobilfunkgegner. Von einer qualifizierten oder zumindest substanziellen Einlassung zu möglichen Risiken der Funktechnik ist Kerst so weit entfernt wie der Mond von der Erde. Dennoch wurde sein Text bislang 81-mal aufgerufen, wie viele ihn außer mir gelesen haben bleibt offen.

Noch übler ist aus meiner Sicht dieser Beitrag auf derselben Plattform: Ein von sich überzeugter Baubiologe darf dort seine unqualifizierten Behauptungen zum Besten geben, und weil bei dieser Gelegenheit auch gleich ein Link auf den "staatlich anerkannten" Baubiologie-Fernlehrgang eines Instituts in Neubeuern gesetzt wird, erfüllt dieser unanständige Beitrag für mich alle Kriterien eines Advertorials. Der Beitrag steht in der Bürger-Community, der Verfasser ist jedoch kein Bürgerreporter, sondern Redakteur in der Zentralredaktion des Allgemeinen Anzeigers. Seriöse Medien machen Advertorials kenntlich, z.B. mit dem Hinweis "Advertorial" direkt beim Beitrag, bei Printmedien auch schon mal im Inhaltsverzeichnis oder durch Aufnahme des zahlenden Kunden ins Inserentenverzeichnis. Nichts dergleichen konnte ich bei dem huldvollen Online-Artikel über den Thüringer Baubiologen Lothar Backhaus finden.

Auch das IZgMF ist nicht ohne Sünde: Wir brachten über viele Jahre hinweg eine Liste von Bürgerinitiativen gegen Mobilfunk. Neuzugänge in der Anti-Mobilfunk-Szene sollten sich unkompliziert bei alten Hasen schlau machen können – so der Plan. Doch wir unterzogen die BIs, die sich meldeten und in die Liste aufgenommen werden wollten, keinerlei Prüfung. Es dauerte Jahre bis wir nach einigen schlechten Erfahrungen endlich begriffen: So geht das nicht, wir schicken ratsuchende Menschen womöglich ungewollt zu Spinnern, Fanatikern, Geschäftemachern oder politisch Radikalen. Diese aus heutiger Sicht banale Einsicht brachte uns dazu, die Eintragungen in die Liste 2009 zu stoppen und die Liste schließlich vom Netz zu nehmen.

Hintergrund
Vorsicht Advertorial: Schleichwerbung mit Panikmache
Greenwashing und Astroturfing: Wie uns Meinungsmacher für dumm verkaufen wollen

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Werbung, Lobbyismus, Laie, Advertorial, Astroturfing, Bürgerreporter, Copy Paste


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