Umwelterkrankungsmodell: Schlechter Rat für "Elektrosensible" (Elektrosensibilität)
An überzeugten Elektrosensiblen wird von Heilpraktikern und einigen niedergelassenen Umweltmedizinern gerne herumgedoktort. Und nicht selten sind es Selbsthilfegruppen, die "Elektrosensiblen" raten, sich in die Hände von Heilern zu begeben. Dann wird z.B. "entgiftet", zu einer Amalgam-Zahnsanierung geraten oder die Messung der Herzratenvariabilität empfohlen. Betroffene sollten, auch wenn in Not, sich reiflich überlegen, solchem Rat zu folgen. Denn aus Sicht der seriösen Wissenschaft ist das Geld dafür mit großer Wahrscheinlichkeit zum Fenster rausgeworfen.
Bild: siehe "Quelle"
Das Umwelterkrankungsmodell ist eines von mehreren Modellen, das zur Erklärung der Ursachen von "Elektrosensibilität" herangezogen wird. Dieses Modell ist vor allem in Laienkreisen sehr populär. Die Grundannahme ist, dass unterschiedlichste im Zweifelsfall schädliche Einflüsse auf den Menschen einwirken. Zur Symptombildung kommt es, wenn die insgesamt vorhandene Widerstandskraft erschöpft ist.
Ein Vorzug des Modells ist, dass sehr unterschiedliche Symptome erklärt werden können, da Symptome sich jeweils zuerst am schwächsten Glied (Organsystem) des Betroffenen manifestieren. Da sich unterschiedliche Einwirkungen addieren können, kann z.B. die schädliche Wirkung eines Faktors (z.B. EMF) durch Besserung eines anderen Faktors vermindert werden. Zahlreiche Therapieempfehlungen basieren auf diesem Modell, z.B. die Empfehlung zur "Zahnsanierung" (Amalgamentfernung) bei EMF-Beschwerden. Wissenschaftlich-empirische Belege für dieses Modell oder die daraus abgeleiteten Empfehlungen gibt es jedoch nicht.
An der Universität Mainz wurde (auch) das Umwelterkrankungsmodell 2005 mit einer Fall-Kontroll-Studie (130 elektrosensible Personen im Vergleich zu 101 Kontrollen) einer Nagelprobe unterzogen. Eine ähnlich umfangreiche Untersuchung elektrosensibler Personen im Hinblick auf die verschiedensten medizinisch relevanten Parameter war seinerzeit aus der wissenschaftlichen Literatur nicht bekannt. Das Vorhaben lieferte damit einen wesentlichen Beitrag zu einer besseren Einschätzung des Phänomens "Elektrosensibilität".
Erfasst wurden u.a. klinisch-chemische, toxikologische und immunologische Laborparameter, um Fragen wie diese zu beantworten:
► Zeigen Elektrosensible eine auffällige Schwermetallbelastung?
► Ist die Herzratenvariabilität Elektrosensibler schwächer?
► Reagieren Elektrosensible empfindlicher auf Allergene?
Schwermetallbelastung
Gemessen wurden die Parameter Quecksilber, Blei, Kupfer, Chrom und Cadmium. Insbesondere von Selbsthilfegruppen wird mit größtem Nachdruck auf die negative Wirkung von Zahnmetallen (Quecksilber, Amalgam) hingewiesen. Als Ergebnis zeigte sich, dass bei den Metallen Quecksilber, Chrom und Blei kein signifikanter Gruppenunterschied bestand. Serum-Kupferwerte waren in der Gruppe der Elektrosensiblen deutlich (signifikant) erhöht, Serum-Cadmiumwerte erniedrigt. Die erhöhten Kupferwerte lassen sich möglicherweise auf den vermehrten Verzehr von "biologischen" Lebensmitteln zurückführen (deren Konsum allerdings nicht gemessen wurde), die vermehrt mit Kupfersalzen zur Verhinderung von Pilzbefall behandelt werden. Die erniedrigten Cadmiumwerte könnten darauf zurückzuführen sein, dass in der Gruppe der Elektrosensiblen deutlich weniger geraucht wurde als in der Kontrollgruppe. Erhöhte Serumwerte als Folge von Zahnmetallen ließen sich nicht feststellen. Interessanterweise waren die auf Schwermetallentgiftungen (z.B. Ausleitungstherapien und Zahnsanierungen) ausgerichteten Behandlungen eines Teils der Elektrosensiblen, soweit in den Befragungen erkennbar, wirkungslos. Elektrosensible mit und ohne derartige Behandlungsversuche wiesen sehr ähnliche Beschwerdeprofile und Beschwerdeintensitäten auf.
Herzratenvariabilität
Gemessen wurden mittels EKG (Elektrokardiografie) Parameter der Herzratenvariabilität unter zwei verschiedenen Untersuchungsbedingungen: eine 5-Minuten Ableitung unter standardisierten Ruhebedingungen sowie eine Ableitung unter standardisierter, vorgegebener Atemfrequenz (Analyse der HRV-Atem-Variabilität). Die Bestimmung der HRV-Parameter basiert auf dem Abstand zweier aufeinander folgender QRS-Komplexe (R-Zacken) im EKG (NN-Intervall) in Millisekunden, gemessen über einen bestimmten Zeitraum. Es existieren verschiedene Analyseverfahren, die gebräuchlichsten sind die Auswertung nach der klassischen "time-domain" Methode oder mit Hilfe der "frequency-domain" Methode.
In den Auswertungen konnte kein Unterschied zwischen den Untersuchungsgruppen festgestellt werden. Die Hypothese einer erheblichen Einschränkung der Herzratenvariabilität als Zeichen einer organischen autonomen Dysfunktion oder einer Maladaptation des Herzkreislaufsystems konnte nicht bestätigt werden.
Immunologische Parameter: Allergene
Mittels eines Allergiechips wurde die Reaktivität (Serum IgE) auf 74 häufige Allergene aus verschiedenen Bereichen (Pollen, Tierallergene, Nahrungsmittel) getestet. Die Hauptauswertung (Anteil der IgE reagiblen Personen) ergab keinen signifikanten Unterschied zwischen Kontrollstichprobe und elektrosensibler Personengruppe. 49 von 131 Personen der Elektrosensiblen (37 %) wiesen gegen mindestens ein Allergen eine Reaktivität auf im Vergleich zu 30 Personen der 100 Personen starken Kontrollgruppe [...] Die große Mehrheit der elektrosensiblen Personen war also gegen keines der Allergene reaktiv, auch war der Schweregrad der Symptomatik nicht abhängig bzw. assoziiert mit der IgE-Reagibilität. Zusammengenommen spricht dies gegen einen beherrschenden Einfluss der getesteten Allergiemechanismen auf das klinische Bild der Elektrosensibilität.
Quelle: Untersuchungen elektrosensibler Personen im Hinblick auf Begleitfaktoren bzw. Erkrankungen, wie z.B. Allergien und erhöhte Belastung mit bzw. Empfindlichkeit gegenüber Schwermetallen und Chemikalien (Abschlussbericht).
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –