Wie ein Volksirrtum in ein Volksvotum uminterpretiert wird (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Mittwoch, 18.11.2020, 19:56 (vor 1320 Tagen) @ H. Lamarr

Andererseits: 29 Prozent glauben fest, es gäbe Menschen, die Mobilfunk spüren könnten (siehe Grafik), weitere 38 Prozent halten dies für wahrscheinlich [...]

Als ob der zitierte Sacherhalt für den dürftigen Kenntnisstand der Eidgenossen in EMF-Sachfragen nicht schon schlimm genug ist, bauscht ihn Teilnehmer "Beobachter" im Gigaherz-Forum noch weiter zum Ballon auf:

Schweizer Stimmberechtigte erkennen "Elektrosensibilität" mehrheitlich an

Der Aussage, "Es gibt Menschen, die Mobilfunkstrahlung spüren können", stimmen 67% der im Auftrag von CHance5G repräsentativ befragten Schweizer Stimmberechtigten zu [...]

Das ist in zweierlei Hinsicht mMn völliger Quatsch, denn a) glauben die Schweizer nicht mehrheitlich an "Elektrosensibilität", sondern "nur" 29 Prozent der bei Wahlen Stimmberechtigten vertreten diese bizarre Überzeugung unbeirrt (mutmaßlich glauben diese Leute auch an Erdstrahlen) und b) ist es vermessen, den Irrglauben von Laien an die Existenz von "Elektrosensibilität" mit deren "Anerkennung" gleich zu setzen. Wer z.B. an die Wirkung von "Wünschelruten" glaubt, erkennt Rutengänger nicht etwa an, sondern ist nur nicht darüber im Bilde, dass bislang kein einziger selbstgewisser Rutengänger es geschafft hat, sich die 10'000 Euro Preisgeld der Skeptiker-Organisation Gwup zu holen.

"Beobachter" versteigt sich noch weiter:

[...] Bei solchen Ergebnissen stellt sich die mindestens Frage, auf welcher Grundlage Menschen, die ihre gesundheitlichen Beschwerden mit der Exposition gegenüber Mobilfunkstrahlung ursächlich in Verbindung bringen, als eingebildete Kranke bezeichnet werden dürfen, wie es z.B. die WHO im Fact sheet 296 tut.

Anscheinend ist "Beobachter" der irrigen Ansicht, wenn nur ausreichend viele Laien behaupten, die Erde sei flach, müsste dies zu Abschaffung von Globussen und zur Umschreibung von Erdkundebüchern führen. Es liegt doch auf der Hand: Der WHO befindet nicht aufgrund der Einschätzung von Laien (täte sie es, hätte sie ihr Gründungsjahr 1948 nicht überlebt), sondern wertet den gesicherten wissenschaftlichen Kenntnisstand aus. Ergo beruht auch das 2005 entstandene Fact Sheet 296 nicht auf Erzählungen Betroffener, sondern auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und es hat in den vergangenen 15 Jahren keine Anlässe gegeben, das Papier einer Neuauflage zu unterziehen. Im Gegenteil: Seit 2005 haben etliche Studien mit weiter verfeinerten Methoden den Wissensstand untermauert, dass "Elektrosensible" einer Selbsttäuschung unterliegen und Opfer des Nocebo-Effekts sind.

"Beobachter"s Behauptung, das Fact Sheet sehe "Elektrosensible" als "eingebildete Kranke", wird in der Anti-Mobilfunk-Szene zwar mit großer Inbrunst immer mal wieder neu kolportiert, wahrer wird das beliebte Märchen dadurch freilich nicht. Wie jeder selbst am Original des angeblichen Corpus Delicti nachprüfen kann.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Manipulation, Irrtum, Illusion, Elektrochonder, Selbsttäuschung, Irrweg


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