KVF-S: Die heilige Kuh (Anlagegrenzwert) bleibt auf dem Eis (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Donnerstag, 29.06.2023, 22:42 (vor 369 Tagen) @ H. Lamarr

Glaubt man Gigaherz-Jakob, hätte heute eine wichtige Sitzung zur Lockerung der EMF-Grenzwerte aus dem Schweizer Bundeshaus live in die große weite Welt hinaus übertragen werden sollen.

Naja, sooo wichtig war die Sitzung am 13. Juni eigentlich nicht, denn die Beschlussempfehlung der KVF-S für das Votum des Ständerats wurde schon am 24. Mai veröffentlicht:

Die Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen des Ständerates hat ihre Auseinandersetzung mit dem Mobilfunknetz und dessen Ausbau weiter vertieft. Sie befürwortet eine Weiterentwicklung des Netzes, dies aber unter Festhalten an den bestehenden Grenzwerten. [...]

Die Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen des Ständerates (KVF-S) hat sich erneut mit dem Ausbau des Mobilfunknetzes auseinandergesetzt. Um sich ein Bild über die derzeitigen Herausforderungen machen zu können, hat die Kommission die verschiedenen, mit dem Ausbau des Netzes befassten Akteure angehört. Ebenso hat sie im Rahmen der Beratung der Motion Mobilfunknetz. Die Rahmenbedingungen für einen raschen Aufbau jetzt schaffen (20.3237) verschiedene Zusatzabklärungen betreffend nichtionisierende Strahlung zur Kenntnis genommen. Um eine ausreichende Grundversorgung im Bereich der Telekommunikation auch in Zukunft sicherzustellen, erachtet die Kommission ein Voranschreiten bei der Einführung der fünften Generation des Mobilfunkstandards (5G) als unerlässlich. Diese Weiterentwicklung soll aber explizit ohne eine Erhöhung der bestehenden vorsorglichen Anlagegrenzwerte erfolgen. Die Kommission ist der Ansicht, dass dieses Anliegen auch im Motionstext entsprechend festgehalten werden soll. Entsprechend hat die KVF-S mit 7 zu 5 Stimmen eine Änderung des Motionstextes vorgenommen. Sie beantragt ihrem Rat einstimmig, der abgeänderten Motion zuzustimmen.

Rede von Lisa Mazzone

Am 13. Juni war es dann im Ständerat nur noch eine Formsache von fünf Minuten, da als einzige Rednerin das Kommissionsmitglied Lisa Mazzone das Wort (im Original auf französisch) ergriff und sagte ...

Dieser Antrag wurde von der Kommission lange und gründlich geprüft. Unsere Kommission hat sich zunächst im Oktober 2021 damit befasst. Damals wurde beschlossen, den Bericht über das Postulat unserer Präsidentin, Frau Häberli-Koller, abzuwarten. Dann, am 5. September 2022, verlangten wir zusätzliche Informationen, als Ergänzung zum Bericht des Bundesrates über das Monitoring der nichtionisierenden Strahlung. Und schliesslich haben wir am 23. Mai dieses Jahres die wichtigsten Partner angehört, die Vertreter der Gemeinden, der Städte, der Kantone und der Branche.

Ich erinnere daran, dass diese Motion 2020 eingereicht, 2021 vom Nationalrat angenommen und von unserer Kommission geändert wurde, wie Sie sich überzeugen konnten. Die Änderung wurde mit 7 zu 5 Stimmen angenommen, aber die geänderte Motion wurde später von allen Mitgliedern einstimmig angenommen.

Was wollte man mit diesem Antrag erreichen? Natürlich geht es nicht nur darum, ein Zeichen zu setzen und die durch den Antrag angestrebte Beschleunigung des Ausbaus des 5G-Netzes zu unterstützen, sondern auch darum, daran zu erinnern, dass die Grenzwerte nicht angetastet werden dürfen, wodurch die Akzeptanz dieser Projekte gewährleistet wird. Es ist bekannt, dass es viele Ängste, Zweifel und Einwände gegen diese Projekte gibt. Die Kommission hat beschlossen, dass sie ein klares Signal setzen will, dass die Grenzwerte eingehalten und nicht verändert werden sollen.

Ich erinnere noch einmal daran, dass das Ziel des Antrags darin bestand, dass die Betreiber dieses Netz innerhalb der nächsten fünf Jahre, also bis 2024, landesweit zu möglichst geringen Kosten ausbauen können. Deshalb habe ich Sie an die verschiedenen Etappen erinnert, die dem vorausgingen, denn heute ist es Sommer 2023. Aber man sieht, in welche Richtung die Kommission gehen möchte.

Ich möchte noch darauf hinweisen, dass die Verordnung über den Schutz vor nichtionisierender Strahlung - das ist eine wichtige Präzisierung im Vergleich zu dem Text, den wir in die Motion eingebracht haben - zwei Arten von Grenzwerten vorsieht: den Immissionsgrenzwert und den Anlagegrenzwert. Es tut mir leid, dass das jetzt sehr technisch wird, aber es ist wichtig, um zu verstehen, warum wir uns auf den einen beziehen.

Immissionsgrenzwerte müssen überall dort eingehalten werden, wo sich Menschen aufhalten können. Sie schützen vor gesundheitlichen Auswirkungen, die wissenschaftlich nachgewiesen sind, und der Monitoringbericht des Umweltbundesamtes hat gezeigt, dass die gemessenen Feldstärken an Orten, an denen sich Menschen üblicherweise aufhalten, deutlich unter den Immissionsgrenzwerten liegen. Das bedeutet, dass der Schutz vor den kurzfristigen Auswirkungen der Strahlung auf die Gesundheit gewährleistet ist.

Die Mobilfunkanlage muss die Grenzwerte für die maximale Nutzung und die maximale Immissionsleistung einhalten; diese Größen können eindeutig bestimmt werden, so dass man genau weiß, wie hoch die maximale Leistung sein wird. Die Grenzwerte erlauben auch eine eindeutige Prognose der zu erwartenden Strahlung einer Anlage.

Die Vollzugsbehörden, die Kantone - einige Kantone haben diese Aufgabe an die Gemeinden delegiert - können relativ einfach ein standardisiertes und gut verständliches Kontrollsystem einrichten. Deshalb kann man sagen, dass wir in der Schweiz ein Netz von guter Qualität haben.

An Orten mit empfindlicher Nutzung, also in Wohnhäusern, Schulen, Krankenhäusern, Altersheimen oder auch auf Kinderspielplätzen, müssen Mobilfunkanlagen den sogenannten Anlagegrenzwert einhalten, und auf diesen Grenzwert beziehen wir uns in der Motion. Es handelt sich um einen Vorsorgewert, und diese Vorsorge, die in der Verfassung und im Umweltschutz - das ist das Vorsorgeprinzip - und speziell in der Verordnung über den Schutz vor nichtionisierender Strahlung (NISV) verankert ist, soll vor möglichen Risiken schützen, die noch nicht erkennbar sind. Der Grenzwert der Anlage wird nach dem Vorsorgeprinzip entsprechend dem Stand der Technik festgelegt. Er hat zur Folge, dass die Funkbelastung an diesen besonderen Orten zehnmal geringer ist als der Immissionsgrenzwert. Kinder, die sich in der Schule oder im Kindergarten aufhalten, sind also zehnmal weniger Strahlung ausgesetzt, als wenn sie sich an anderen Orten aufhalten. Aus diesem Grund haben wir in der Kommission beschlossen, uns auf diese Werte zu beziehen.

Für unsere Kommission ist, wie ich bereits sagte, die lokale Akzeptanz notwendig, um diese Projekte vorantreiben zu können. Die Präzisierung unseres Antrags ermöglicht dies. Das hat uns davon überzeugt, diesen Weg zu gehen, und ich fordere Sie auf, der Mehrheit der Kommission zu folgen. Es gibt keine weiteren Vorschläge, da der Antrag einstimmig angenommen wurde.

Kommentar: Mit Verlaub, ich habe Zweifel, ob Frau Mazzone die Schweizer EMF-Grenzwertproblematik tatsächlich voll und ganz verstanden hat. Denn hätte sie es, hätte sie den folgenden Satz nicht gesagt: "Kinder, die sich in der Schule oder im Kindergarten aufhalten, sind also zehnmal weniger Strahlung ausgesetzt, als wenn sie sich an anderen Orten aufhalten." Was gibt es daran auszusetzen? Der Satz beschreibt eine theoretisch mögliche Extremsituation, die in der Realität so aber nie vorkommt. Mazzone erweckt den Eindruck, in Schulen und Kindergärten herrsche stets der Anlagegrenzwert, anderswo (z.B. daheim oder auf dem Schulweg) hingegen stets der Immissionsgrenzwert. Das aber ist nirgendwo der Fall, nicht nur in der Schweiz, sondern nirgendwo in der Welt. Die tatsächliche Funkimmission mag in der Schweiz in Ausnahmefällen dem Anlagegrenzwert zeitlich begrenzt bei voller Anlagenauslastung nahe kommen, dem Immissionsgrenzwert ist jedoch garantiert kein Mensch auf der Welt ausgesetzt. Es gibt genügend Messkampagnen, die meine Behauptung belegen. In den allermeisten Situationen ist die Funkimmission weit unter den Anlagegrenzwerten und noch viel weiter unter den Immissionsgrenzwerten.

Organisierte Mobilfunkgegner in der Schweiz haben es verstanden, diesen Sachverhalt zugunsten furchteinflößender Grenzwertbetrachtungen geschickt auszublenden.

Anlagegrenzwerte auf Wirkung prüfen

Schon seit mehr als 20 Jahren haben die Schweizer ihre heiligen Anlagegrenzwerte. Deutsche, Franzosen, Briten, Amerikaner und mehr als 100 andere Völker haben hingegen nur die Immissionsgrenzwerte. Und, sind die Schweizer heute gesünder als die anderen oder die anderen kränker als die Schweizer? Nicht dass ich wüsste, doch das könnte man ja mal ernsthaft untersuchen lassen. Unendlich schwierig sollte das nicht sein, wenn man sich z.B. nur auf Krebs bezieht. Denn die von Mobilfunkgegnern so hoch geschätzte 2B-Eingruppierung von Iarc gilt nicht für irgendwelche Krebse, sondern nur für Tumoren im Hirn und im Zentralen Nervensystem eines Menschen. Das sollte doch einen überschaubar komplizierten Vergleich der altersstandardisierten Tumor-Inzidenzen in der Schweiz gegenüber möglichst schweizähnlichen Ländern ohne Anlagegrenzwert zulassen. Zeigen sich statistisch signifikante Unterschiede zugunsten der Schweiz, haben die Anlagegrenzwerte möglicherweise die gewünschte Wirkung. Andernfalls wohl nicht. Mir ist klar, dass allerlei Nebeneffekte einen messerscharfen Vergleich erschweren, dennoch könnte man mMn wenigstens mal hinschauen, ob es da etwas zu entdecken gibt ...

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Vorsorgewert, Schweiz, Anlagengrenzwert


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