Anamnese erzeugt Plausibilität, Kausalität beweist sie nicht (Elektrosensibilität)
Dr. med. Wolf Bergmann ist ein Mobilfunkkritiker der ersten Stunde. In dieser Angelegenheit redete sich der bekennende Homöopath wie ein Stehaufmännchen schon mehrfach um Kopf und Kragen. In Ausgabe 40/2020 des Regenbogenblattes "Bild der Frau" wurde Bergmann interviewt, wie er denn "elektrosensible" Patienten diagnostiziere. ChatGPT findet Bergmanns Antworten fachlich korrekt, bis drauf, dass die Methode des Arztes keinen validen Rückschluss zulässt, was die Beschwerden der Betroffenen kausal verursacht.
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Trotz beträchtlicher Anstrengungen ist es der internationalen Forschung bis heute nicht gelungen, auch nur einen einzigen "Elektrosensiblen" ausfindig zu machen, der seine behauptete Fähigkeit der Wahrnehmung schwacher hochfrequenter elektromagnetischer Felder unter strenger wissenschaftlicher Aufsicht unter Beweis stellen konnte. Das Phänomen der "Elektrosensibilität" hat damit große Verwandtschaft zum deutlich älteren Phänomen der "Wünschelrutengänger", die unter strenger wissenschaftlicher Aufsicht bislang kein Wasser mit einer Treffsicherheit orten konnten, die deutlich über Zufallstreffer hinaus ging. Gleichwohl gibt es in Deutschland eine Handvoll Ärzte, die behaupten, "Elektrosensible" diagnostizieren zu können, Bergmann ist einer von ihnen.
Auf die Frage "Wie stellen Sie die Diagnose?" antworte Bergmann in dem Interview (Quelle):
Um die Diagnose Elektrohypersensibel (elektrosensibel sind alle Lebewesen) stellen zu können, braucht es in erster Linie ein ausführliches ärztliches Gespräch in vorurteilsfreier und empathischer Atmosphäre. Die spontanen und unbeeinflussten Schilderungen der Betroffenen und deren Erleben sind das unverzichtbare Kernstück.
Ergänzt werden muss die Anamnese durch gezielte Fragen nach Vorerkrankungen und vorbestehenden Beschwerden, anderen Umweltbelastungsfaktoren und psychischen Belastungen. Besonders auch nach der Beobachtung bzw. Wahrnehmung, welche "Zustände" und Beschwerden deutlich unter der wahrgenommenen Belastung mit elektromagnetischen Feldern auftreten bzw. sich verstärken. Und was geschieht, wenn die Belastung vermindert oder vermieden wird. [...]
Der KI ChatGPT erteilte ich den Auftrag, die Ausführungen Bergmanns dagingehend zu prüfen, ob sie zu einer fundierten evidenzbasierten ärztlichen Diagnose führen oder eher zu einer Diagnose aufgrund der Erzählungen der Betroffenen.
Befund der KI: Die beschriebenen Schritte sind medizinisch notwendig und fachlich korrekt für eine sorgfältige Anamnese, sie führen für sich genommen jedoch nicht zu einer evidenzbasierten Diagnose im strengen Sinne, sondern zu einer anamnesebasierten, phänomenologischen Zuschreibung.
Das ärztliche Gespräch in vorurteilsfreier und empathischer Atmosphäre ist unstrittig der Ausgangspunkt jeder seriösen Diagnostik. Die unbeeinflussten Schilderungen der Betroffenen sind unverzichtbar, um Symptomkonstellationen, zeitliche Verläufe, individuelle Deutungen und Leidensdruck überhaupt zu erfassen. In diesem Punkt unterscheidet sich Elektrohypersensibilität nicht von vielen anderen Beschwerdebildern ohne klaren Biomarker.
Auch die Ergänzungen der Anamnese – Vorerkrankungen, Umweltbelastungen, psychosoziale Faktoren, Beobachtungen von Expositions-Symptom-Zusammenhängen sowie Besserung bei Vermeidung – entsprechen guter ärztlicher Praxis. Sie erhöhen die Plausibilität einer individuellen Korrelation und helfen, konkurrierende Erklärungen einzugrenzen.
Der entscheidende Punkt ist jedoch die epistemische Ebene der Diagnose: Eine evidenzbasierte ärztliche Diagnose im engeren Sinn setzt voraus, dass es validierte, objektivierbare Kriterien gibt, mit denen die angenommene Ursache unabhängig von der subjektiven Wahrnehmung überprüfbar ist. Genau daran fehlt es bei Elektrohypersensibilität bislang. Weder existieren konsistent reproduzierbare Expositions-Wirkungs-Beziehungen unter kontrollierten Bedingungen noch etablierte physiologische Marker, die eine kausale Zuordnung erlauben würden. Was mit den beschriebenen Schritten erreicht wird, ist daher:
► eine belastbare Beschreibung des individuellen Beschwerdebildes,
► eine ernsthafte ärztliche Anerkennung des Leidens,
► eine differentialdiagnostische Einordnung,
► gegebenenfalls die Diagnose einer funktionellen oder umweltbezogenen Beschwerdesymptomatik.
Was nicht erreicht wird, ist der Nachweis, dass elektromagnetische Felder im naturwissenschaftlichen Sinn die Ursache der Beschwerden sind. Die Diagnose beruht somit primär auf Erzählungen, Selbstbeobachtungen und subjektiven Korrelationen der Betroffenen – nicht im abwertenden Sinn, sondern im präzisen erkenntnistheoretischen Sinn. Man könnte es so zuspitzen:
Die Schritte erlauben eine medizinisch verantwortliche Diagnose eines Leidenszustands, nicht aber eine evidenzbasierte Diagnose einer EMF-bedingten Erkrankung.
Später im Interview ergänzt Bergmann seine Ausführungen um die Behauptung:
In besonderen Fällen (Gerichtsgutachten, Rentenverfahren, Studien usw.) kann über aufwendige Tests (Blut-, Speichel- und Urinuntersuchungen), Untersuchung der Herzratenvariabiltät und der Hirnströme mit speziellen Geräten und Zustandsbeobachtungen (Blutdruck, Herzrhythmus, Hautfärbung usw.) mit und ohne Mobilfunkbelastung die Diagnose erhärtet werden.
Aus meiner Sicht, das teilte ich der KI mit, redet Bergmann da Humbug, da es weltweit in keinem einzigen Fall gelungen ist, subjektive Beschwerden von "Elektrosensiblen" auf die genannte Weise zu objektivieren.
Antwort der KI: Deine Einschätzung ist aus wissenschafts- und evidenzbasierter Sicht gut begründet. Ich sehe keinen tragfähigen Grund, ihr zu widersprechen.
Erstens: Objektivierbarkeit versus Messfülle
Die von Bergmann genannten Verfahren – Blut-, Speichel- und Urinparameter, Herzratenvariabilität, EEG, Blutdruck, Hautfarbe etc. – sind unspezifische physiologische Messgrößen. Sie reagieren auf eine Vielzahl von Einflussfaktoren: Stress, Erwartungshaltung, Aufmerksamkeit, Raumtemperatur, Tageszeit, Vorerkrankungen, Medikamente. Dass sich unter "Mobilfunkbelastung" irgendeine Abweichung messen lässt, ist trivial; daraus folgt jedoch keinerlei kausaler Nachweis.
Viele Messungen erzeugen keine Objektivität, sondern erhöhen lediglich den Interpretationsspielraum.
Zweitens: Der entscheidende Test fehlt
Der Kern der Frage lautet nicht, ob sich physiologische Parameter ändern, sondern ob diese Änderungen reproduzierbar, verblindet und spezifisch mit EMF-Exposition korrelieren.
Genau das ist in kontrollierten Doppelblind-Provokationsstudien seit über 20 Jahren wiederholt geprüft worden – mit dem konsistenten Ergebnis: Betroffene berichten Symptome zuverlässig dann, wenn sie Exposition erwarten, nicht dann, wenn sie tatsächlich stattfindet. Physiologische Parameter folgen demselben Muster oder zeigen keine konsistente Reaktion.
Dass es weltweit nicht gelungen ist, subjektive Beschwerden auf die beschriebene Weise kausal zu objektivieren, ist kein Zufall, sondern das Ergebnis dieser Studienlage.
Drittens: "Diagnose erhärten" ist ein rhetorischer Ausweichbegriff
Bergmann spricht auffällig nicht von "nachweisen", sondern von "erhärten". Das ist erkenntnistheoretisch unscharf und medizinisch problematisch. Eine Diagnose wird entweder durch valide Kriterien gestützt oder sie bleibt hypothesenhaft. Das bloße Auffinden von Messwertänderungen "mit und ohne Mobilfunkbelastung" erhärtet gar nichts, solange nicht gezeigt wird, dass:
► die Effekte spezifisch für EMF sind,
► sie unabhängig von Erwartung und Kontext auftreten,
► sie reproduzierbar sind,
► sie sich zwischen Betroffenen und Kontrollen unterscheiden.
Diese Anforderungen werden von den genannten Verfahren nicht erfüllt.
Viertens: Gerichtsgutachten ändern die Evidenz nicht
Der Verweis auf Gerichtsgutachten oder Rentenverfahren ist sachlich irrelevant. Juristische Plausibilität ist kein Ersatz für wissenschaftliche Validität. Gerichte bewerten Einzelfälle unter Beweislastregeln, nicht unter den Kriterien der experimentellen Reproduzierbarkeit. Dass solche Tests "in besonderen Fällen" eingesetzt werden, sagt mehr über den institutionellen Kontext als über ihre Aussagekraft.
Fünftens: Klassischer Kategorienfehler
Bergmann begeht – bewusst oder unbewusst – einen Kategorienfehler: Er versucht, ein subjektives Beschwerdephänomen mit objektiven Messgeräten zu legitimieren, ohne einen vermittelnden biologischen Mechanismus nachzuweisen. Das Ergebnis ist eine Art apparativer Impressionismus: Messkurven ohne erklärende Theorie, die retrospektiv passend gedeutet werden.
Zusammenfassend
Nein, ich sehe das nicht anders. Die von Bergmann behauptete "Erhärtung" der Diagnose ist wissenschaftlich nicht haltbar. Sie ersetzt fehlende Evidenz durch Messaufwand, suggestive Kontrastierung ("mit und ohne Mobilfunk") und eine Sprache, die Objektivität suggeriert, ohne sie einzulösen. Wenn man es zugespitzt formuliert: Nicht die Elektrohypersensibilität wird objektiviert, sondern die ärztliche Überzeugung.
Hintergrund
Fußabdruck von Wolf Bergmann im IZgMF-Forum
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –