Schüren irrationaler Ängste: Beton brennt wirklich nicht! (Allgemein)
Nur auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob alle die kleinen und großen Gauner, die mit dem Schüren irrationaler Ängste gegenüber Elektrosmog ihre Pfründe sichern wollen, aus dem Nichts aufgetaucht wären. Dieser Eindruck aber täuscht. Ängste vor Elektrosmog sind lediglich der vorläufige Endpunkt einer künstlich geschaffenen Angstkaskade, die vermutlich schon in der Antike ihren Anfang nahm. Unmittelbarer Vorgänger der Elektrosmog-Paranoia war ab den späten 1950er Jahren die Beton-Paranoia. So wie heute eine handvoll skrupellose Prediger zahllose Stopfgänse mit Ängsten gegenüber EMF füttern, wurden nach dem II. Weltkrieg bizarre Ängste gegenüber Beton geschürt. Die Mittel zum Zweck gleichen sich dabei wie ein Ei dem anderen.
Die Parallelen zwischen Beton- und Elektrosmog-Ängsten sind wirklich frappierend, sogar die lokale Verortung von Widerstandsnestern gegen die vermeintlichen Bedrohungen ergibt: Wo einst Beton besonders heftig verdammt wurde, wird heute bevorzugt gegen Elektrosmog geeifert, etwa im Raum Bodensee.
Wichtigster Stichwortgeber der Beton-Paranoia war Dr. med. Hubert Palm, der 1916 in St. Goar, Rheinland-Pfalz, geboren wurde und ab 1963 in Konstanz und Kreuzlingen am Bodensee wirkte. In seinem Buch "Das gesunde Haus", mit dem er der Baubiologie in Deutschland den Weg ebnete, erfand Palm beispielsweise nichts Geringeres als "Die Betonallergie des Zivilisationsmenschen" (Auszug):
Die Betonallergie des Zivilisationsmenschen
Die Dysregulationen wirken sich psychosomatisch, also auch seelisch aus. Und das hat u. a. schon zu einer allgemeinen seelischen Betonüberempfindlichkeit geführt, gleich wie die allgemeine leibliche Vergiftung durch die Chemizide schon zu einer allgemeinen leiblichen und auch seelischen Allergie gegen verkünstelte Chemikalien aller Art geführt hat. Was die Umweltschutzbewegung lehrt. Weshalb erscheinen in Fachzeitschriften, in Zeitungen und im Volksmund immer häufiger die studierenswerten Bezeichnungen wie „Betonklötze“, „Betonwüste“, „einbetonierte Welt“, „Betonungeheuer**, „Betonsilos**, usf.? Es existieren schon Bücher wie „Es darf kein Gras mehr wachsen“ (1). Ob solche sich stetig mehrenden, kritisierenden und anklagenden Bezeichnungen nicht deutlich auf ein erwachendes Bewußtsein im Volke und auf eine aufkommende allgemeine „Betonallergie“ des Menschen hinweisen? (1).
Als „steingewordene Scheußlichkeiten“ und Bauten unmenschlicher Art bezeichneten Mitglieder des Bundes Deutscher Architekten auf einer Bodenseerundfahrt des Bundes im Jahre 1974 eine Reihe von Betonbauten im Süden und Norden des Dreiländermeeres. Ist etwas „Scheußliches“ psychisch und somatisch etwas Gesundes? — Ist etwas „Unmenschliches“ (Novotny) etwas Gesundes? [...]
An anderer Stelle seines Buches liefert Palm schon vor mehr als 50 Jahren heutigen "Elektrosensiblen" die 1:1-Steilvorlage für ihre bekannte und gerne vorgetragene Überzeugungsbehauptung, die schrecklichen Symptome würden spurlos verschwinden, sobald sie sich in eine elektrosmogfreie Umgebung begeben:
Die moderne Medizin hat schon derartig viele uncharakteristische und in ihren Hausursachen bislang unbekannte Organ- und Systemstörungen gefunden, daß sie zu einer neuen Bezeichnungsweise übergegangen ist. Nämlich es wird vor den Namen des gestörten Organs oder Systems ein „Dys“ gesetzt, wie Dystonie, Dyscardie usf. Das besagt, daß irgend eine Disharmonie chronisch (also auf Wohnzeit) vorliegt, von welcher der Teufel (Bauteufel?) weiß, worin sie eigentlich besteht und was ihre geheimnisvolle Ursache ist. — Wenn man diese Armen in ein vollständig gesundes Haus versetzt, wie es schon zahllos oft unbewußt in einem glücklichen Urlaub mit einfachem Leben ausprobiert wurde, dann verschwinden alle diese vom Haus verursachten Dys-Regulationen eine nach der anderen!
Die vermeintlich schlüssige Erklärung überzeugter "Elektrosensibler" für ihr angebliches Leiden ist also keineswegs neu, sie wurde lediglich von der Baubiologie vom vormals angeblich krankmachenden Aufenthalt in Betonbauten auf jetzt den angeblich krankmachenden Aufenthalt in einem Funkfeld adaptiert! Erforderlich wurde diese Adaption, weil schon lange kaum noch jemand auf fadenscheinige Behauptungen hereinfällt, Beton würde krank machen. Angst vor Betonbauten war für die Baubiologie seit den 1960er Jahren ein tragendes Geschäftsmodell, das jedoch in den 1990er Jahren aufgrund ersichtlich ausbleibender gesundheitlicher Folgen bereits stark an Attraktivität eingebüßt hatte. Für die Baubiologie war deshalb das Aufkommen des GSM-Massenfunks Anfang der 1990er Jahre eine hoch willkommene Gelegenheit, das alte Geschäftsmodell Beton-Phobie aufzugeben und gegen die vielversprechende junge Mobilfunk-Phobie zu ersetzen. Überzeugte "Elektrosensible" wurden von der Baubiologie von Anfang an als Alarmvehikel für angebliche gesundheitsschädliche Nebenwirkungen des Mobilfunks gehegt, gepflegt und für werbliche Zwecke verwendet.
Auch vor 50 Jahren glaubten jedoch keineswegs alle Menschen den dramatischen Warnungen der Baubiologie vor den vermeintlich schädlichen Folgen des Betons. So machte sich am 16. Januar 1969 in der Münchener Boulevardzeitung "tz" der Glossenschreiber Harald Freyberger über Hubert(us) Palm und dessen Geschäftsmodell der Beton-Phobie lustig:
Beton soll jetzt auch noch krebsfördernd sein
Der Dr. Hubertus Palm aus Konstanz bringt einen ganz durcheinander. Seit er in Mainz vor einem bauwirtschaftlichen Kongreß den Teufel an die Betonwand gemalt hat, sieht man seine eigene Behausung mit mißtrauischen Augen an. Dr. Palm glaubt nämlich, daß zahlreiche Betonsorten krebsfördernd sind und auch zu Potenzstörungen führen. Das beginnt, so hat er erzählt, bereits wenige Tage nach dem Einzug in einen Betonwandbau mit Müdigkeit und Nervosität.
Palm führt die gesundheitsgefährdende Wirkung der meisten Betonsorten darauf zurück, daß der moderne Baustoff nicht durchlässig genug sei, um die in jüngster Zeit entdeckten Strahlungen und elektrischen Spannungen in die Wohnungen einzulassen. Beides benötige der Mensch aber zum gesunden Leben.
Ich wohne in Beton und bin nervös. Allerdings erst, seitdem Dr. Palm aus Konstanz In Mainz gesprochen hat. Wenn jetzt einer gähnt in der Wohnung, betrachten ihn die übrigen mit Mißtrauen und denken: Was macht wohl seine Potenz? Die Hausfrau spricht von einem Sommerhaus im Gebirge — von einem Holzhaus.
Sie sagt nichts, aber dieses Holzhäuschen erscheint ihr wie die Arche Noahs. Denn die Menschheit hat offenbar alles falsch gemacht. Lediglich Tante Alma hält Dr. Palm für einen Idioten. Sie glaubt nämlich nur an Erdstrahlen und deren schädliche Wirkung. Und gegen die schirmt Beton hervorragend ab.
Freybergers Glosse offenbart nebenbei die unglaubliche Skrupellosigkeit, mit der die Baubiologie gezielt Ängste schürt. Zu Palms Zeiten wurde Beton und Stahlbeton als giftig stigmatisiert, weil diese von außen einwirkende elektromagnetische Felder der Atmosphäre schirmen und die Bewohner von Stahlbetonbauten somit einem "Nullfeld" aussetzen. Also keinem Feld. Diesem Nullfeld wurden allerlei schädliche Eigenschaften zugeschrieben u.a. Unfruchtbarkeit, Potenzprobleme, missgebildete Kinder, Fehlgeburten, Müdigkeit und auch Krebs. Mit Aufkommen des Mobilfunks stellte die Baubiologie das Palmsche Geschäftsmodell auf den Kopf: Jetzt war keine Rede mehr vom schädlichen Nullfeld, im Gegenteil, jetzt waren plötzlich von außen eindringende elektromagnetische Felder des Mobilfunks für alles das verantwortlich, was zuvor dem Nullfeld angedichtet wurde. Zweiflern, die auf 100 Jahre Rundfunk und Fernsehen verwiesen, wurde als Erklärung die Pulsung der GSM-Mobilfunksignale als Wurzel allen Übels entgegen gehalten. Ein fadenscheiniges Argument, das schon mit dem ungepulsten UMTS-Mobilfunk ab 2004 in Deutschland obsolet wurde.
Gleich geblieben ist trotz des Paradigmenwechsels bei den Geschäftsmodellen nur eines: Damals wie heute werden bevorzugt emeritierte Professoren und Mediziner vor den Karren der Baubiologie gespannt, um irrationale Ängste mit Hilfe von Autoritäten dennoch glaubhaft zu machen.
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –