1 Sekunde kann 1 Woche aufwiegen: Hintergrund (Technik)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 03.11.2019, 23:54 (vor 1765 Tagen) @ H. Lamarr

«Ich wünschte, es hätte eine», sagt Röösli. Der schlechte Empfang macht nicht nur das Telefonieren anstrengend. Er sorgt auch für massiv mehr Strahlung: Messungen seines Teams haben unlängst gezeigt, dass bei sehr schlechter Verbindung eine Sekunde gleich viel Strahlung produziert wie eine Woche ohne Unterbruch am Smartphone bei optimalem Empfang. Eine Mobilfunkantenne in der Nähe würde Rööslis Strahlenbelastung stark reduzieren.

Der Satz "Eine Mobilfunkantenne in der Nähe würde Rööslis Strahlenbelastung stark reduzieren", kann missverständlich aufgefasst werden. Gemeint ist: Bei geringem Abstand zwischen den beiden Kommunikationsteilnehmern Sendemast und Mobiltelefon können beide (Mobiltelefon und Sendemast) mit niedriger Sendeleistung arbeiten, da die zu überbrückende Distanz für beide gering ist. Umgekehrt müssen bei großem Abstand beide mit hoher Sendeleistung arbeiten. Eine niedrige Sendeleistung ist erstrangig für Mobiltelefone von gesundheitlicher Bedeutung, da diese direkt am Körper getragen und benutzt werden. Dass bei geringem Abstand auch der Sendemast schwächer strahlt ist ein angenehmer Nebeneffekt, der gesundheitlich jedoch zweitrangig ist.

Auf Nachfrage des IZgMF teilte Prof. Röösli Einzelheiten des oben genannten Vergleichs mit.

Der Vergleich beruht auf Messungen, die mit Software-modifizierten Mobiltelefonen in Basel durchgeführt wurden. Die Grafik zeigt für Sprachtelefonate (CS call) in einem Basler UMTS-Netz worum es geht:
[image]
Bild: Swiss TPH

Die x-Achse der Grafik (waagrecht) zeigt den Empfangspegel, mit dem ein Mobiltelefon das Signal von dem Sendemasten empfängt, auf den es eingebucht ist (RX Power - je kleiner der Wert, desto schlechter der Empfang). Und auf der senkrechten y-Achse ist die Sendeleistung aufgetragen, mit der das Mobiltelefon sendet, um den Sendemasten gut erreichen zu können (TX Power - je größer der Wert, desto höher die Sendeleistung). Die schwarze Kurve der Grafik gibt nun Auskunft, wie sich die Sendeleistung des Mobiltelefons abhängig vom Empfangspegel verändert, bewegt sich der Benutzer des Telefons von dem Sendemasten fort oder zu ihm hin (die blauen und roten Eintragungen in der Grafik spielen für die Betrachtung keine Rolle).

Wie jeder von der schematischen Anzeige des Empfangspegels am Display seines Smartphones her weiß, ist der Empfangspegel in unmittelbarer Nähe des Sendemasten, mit dem Verbindung besteht, hoch. Dieser Fall ist in der Grafik am rechten Rand zu sehen, der hohe RX-Power-Pegel um –40 dBm führt, dazu, dass der Sendemast das Smartphone anweist, sich mit niedriger Sendeleistung zu begnügen (hier TX-Power ebenfalls um –40 dBm). Auf die Einheit "Watt" umgerechnet sind –40 dBm bescheidene 0,1 µW Sendeleistung. Für den Benutzer des Smartphones und die Anwohner des Sendemasten ist dieser Fall optimal, denn sowohl der Sendemast als auch das Smartphone können wegen der kurzen zu überbrückenden Distanz mit minimaler Sendeleistung arbeiten.

Was passiert, wenn sich der Nutzer von dem Sendemasten in Basel einige Straßenzüge fort bewegt hat, sein Smartphone aber nicht umbuchte, sondern noch immer auf dem ursprünglichen Masten eingebucht ist, das ist dem linken Rand der Grafik zu entnehmen.

Der Empfangspegel RX-Power ist jetzt mit etwa –115 dBm sehr schwach. Um die größere Distanz zu überbrücken und die zwischen Sendemast und Smartphone liegenden Gebäude zu durchdringen, muss das Smartphone seine Sendeleistung auf etwa +20 dBm (100 mW) hoch schrauben. Sonst würde die Verbindung zum Sendemasten abreißen. Die Differenz von –40 dBm zu +20 dBm wirkt wegen der logarithmischen Skalierung nicht sonderlich dramatisch, auf lineare Skalierung entzerrt bedeuten 60 dB Differenz jedoch einen eindrucksvollen Anstieg der Sendeleistung des Smartphones um den Faktor 1 Million! Und dies ist noch nicht einmal das Ende der Fahnenstange, denn im UMTS-Modus haben Smartphones eine maximale Sendeleistung von mehr als 100 mW (laut BNetzA typisch zwischen 125 mW und 250 mW). Im Extremfall könnte die Sendeleistung eines Smartphones demnach sogar um den Faktor 2,5 Millionen ansteigen (wer dB-Werte auf Linearwerte umrechnen möchte, kann dies und mehr mit dem kostenlosen Einheitenumrechner des IZgMF tun).

Jetzt ist es nur noch ein Katzensprung zu dem Vergleich, demzufolge bei sehr schlechter Verbindung eine Sekunde gleich viel Strahlung produziert wie eine Woche ohne Unterbrechung am Smartphone bei optimalem Empfang. Denn eine 7-Tage-Woche dauert 604'800 Sekunden. Hier steckt großzügig gesehen der oben hergeleitete Faktor‬ 1 Million drin. Wer bei sehr gutem Empfang (kleine Distanz zu Sendemast) 1 Woche rund um die Uhr mit seinem Smartphone telefoniert (genau genommen sind es sogar 11½ Tage), pumpt sich weniger Sendeleistung in seinen Kopf als bei einem 1-Sekunden-Telefonat bei sehr schlechtem Empfang (große Distanz zu Sendemast):

Wenn sich das doch einmal bei Sendemastengegnern herumspräche ...

Anzumerken ist, der plakative 1-Sekunde-vs.-1-Woche-Vergleich lässt sich konkret nicht verallgemeinern, denn dazu spielen in den Alltag von Funkverbindungen zu viele unvorhersehbare Einwirkgrößen mit hinein (SAR-Wert des Smartphones, lokal unterschiedliche Ausbreitungsbedingungen für Funkwellen, Bebauungsdichte, örtliche Dichte des Funknetzes eines Anbieters ...). Tendenziell ist der Vergleich jedoch immer zutreffend, mal mehr, mal weniger dramatisch. Wer sich also in Sicherheit wiegt, wenn er einen geplanten Funkmast so weit wie nur möglich von sich fort schiebt, der hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht, er schadet sich und anderen. Denn wenn von Mobilfunk überhaupt ein Gesundheitsrisiko ausgeht, dann nicht von den Sendemasten, sondern von den am Körper betriebenen Endgeräten.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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