Studie an Umweltkranken: Leben mit attribuierten Symptomen (Forschung)
Die Ende 2016 publizierte Studie "Struggle to obtain redress": Women’s experiences of living with symptoms attributed to dental restorative materials and/or electromagnetic fields (Volltext gratis!) gibt interessante Einblicke in die Denkstrukturen von Frauen (Schweden), die schwere körperliche Symptome auf Amalgam und/oder auf Elektrosmog zurückführen.
Dreh- und Angelpunkt (Core Category) bei allen Probandinnen ist das, was die Wissenschaftler "Struggle to obtain redress" nennen (Kampf um Anerkennung). Gemeint ist damit das Bemühen der Patientinnen, den Widerspruch aufzuklären zwischen der eigenen Wahrnehmung schwerer Symptome und der Abweisung durch Ärzte und Zahnärzte, die nach einer Untersuchung und der Auswertung von Tests keine Erkrankung feststellen können. Mit dem Kampf um Anerkennung wollen die Betroffenen dem Stigma der Hypochondrie entgegenwirken. Die Betroffenen bemühen sich um Überweisungen zu "Spezialisten", die imstande sind, der Patienten (vermeintliche) Erkrankung zu diagnostizieren, sie sehen sich als Vorkämpfer auf Barrikaden und davon überzeugt, dass ihnen mit einer richtigen Diagnose irgendwann einmal Gerechtigkeit widerfahren wird. In diesem Sinne hoffen die Betroffenen letztendlich auf Wiedergutmachung (Schadenersatz).
Diese Schilderung deckt sich bis ins Detail mit Bekundungen, wie sie von überzeugten Elektrosensiblen auch hierzulande zu hören sind. Ob dies ein typisches Verhalten bei Umweltkranken ist oder nur auf guter Vernetzung und dem Abstauben von Argumenten via Internet beruht bleibt offen.
Unter der soeben betrachteten Kernkategorie erkannten die Wissenschaftler zwei Hauptkategorien:
Stricken with illness (geschlagen von Krankheit): Diese Kategorie gilt der Wahrnehmung der Betroffenen, an einer lebensbedrohlichen Krankheit mit vielen und diffusen Symptomen zu leiden. Die Frauen zeigten sich überzeugt, ihre Beschwerden würden von externen Störgrößen verursacht, etwa von Detalamalgam und/oder von elektromagnetischen Feldern. Mehrheitlich machten sie eine Zahnbehandlung für den Ausbruch ihrer Krankheit verantwortlich. Alle hatten deshalb ihre Amalgamfüllungen bereits gegen andere Materialen ersetzen lassen, mache tauschten das Material sogar schon zweimal. Krank blieben trotzdem alle, nur drei berichteten von einem Nachlassen der Symptome.
A blot in the protocol (ins Abseits abgeschoben): Gemeint ist damit, wie Betroffene die Begegnungen mit Ärzten/Zahnärzten empfinden, werden sie dort auf der Suche nach Hilfe, Behandlung und der richtigen Diagnose vorstellig, nur um als physisch gesund wieder weggeschickt zu werden.
Unterhalb der beiden Hauptkategorien verorteten die Wissenschaftler noch insgesamt fünf weitere Unterkategorien, die die Wahrnehmung der Betroffenen genauer beschreiben. Dies möge bitte jeder im Original der Studie (siehe Link oben) selbst nachlesen.
Unterm Strich empfiehlt die Studie zur Vermeidung von Dissonanzen zwischen Behandler und Patient, den Betroffenen gegenüber einfühlsam zu sein. So fühlten sich die Frauen von Alternativmedizinern prompt besser verstanden und behandelt als von ordentlichen Ärzten. Alternative würden z.B. mit einer "Augendiagnose" die Schilderungen der Betroffenen ohne Federlesens anerkennen und ihnen dadurch Genugtuung verschaffen. Da alternativen Diagnosen jedoch die Anerkennung z.B. bei Arbeitgebern, Ämtern und Behörden verweigert wird, landen die Betroffenen früher oder später doch wieder bei ordentlichen Ärzten und laufen Gefahr, in eine Endlosschleife zu geraten. Ärzte müssten deshalb lernen, solchen Patienten geduldig zuzuhören und sie auf der Suche nach einer Erklärung für ihre Beschwerden nicht allein im Regen stehen zu lassen. Selbst wenn keine ordentliche Diagnose möglich sei, so die Wissenschaftler, sollten sich Behandler ernsthaft um Anamnese und ein aufbauendes Beratungsgespräch bemühen, damit die Patienten sich gut aufgehoben fühlen, sie ihren Arzt akzeptieren und dessen fachliche Einschätzung als stimmig annehmen.
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –
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