WHO-Review zur Kognition unter HF-EMF-Einwirkung publiziert (Forschung)
Wie wirkt sich HF-EMF-Einwirkung auf Prozesse der Wahrnehmung und des Erkennens bei Menschen aus? Antworten auf diese Frage suchte im Auftrag der WHO eine zehnköpfige Arbeitsgruppe um die Korrespondenzautorin Blanka Pophof (BfS). Die am 22. Juli 2024 publizierte systematische Review (Volltext) stützt sich auf 76 experimentelle Primärstudien mit zusammen 3846 Teilnehmern. Das Paper zeigt mit überwiegend mäßiger bis hoher Sicherheit, dass eine kurzzeitige HF-EMF-Exposition bei SAR-Werten unterhalb der empfohlenen Icnirp-Grenzwerte sich nicht negativ auf die 17 untersuchten kognitiven Funktion von Menschen auswirkt.
Wie bei allen zehn systematischen HF-EMF-Reviews, die im Auftrag der WHO seit etwa 2020 von unterschiedlichen Arbeitsgruppen in Angriff genommen wurden, haben auch die Autoren der hier vorgestellten Review zuerst ein 2021 publiziertes Studienprotokoll erstellt, in dem sie ihr Vorhaben nach allen Regeln der Kunst beschreiben. Wozu so ein Protokoll gut ist, wird hier angesprochen. Abweichungen vom Protokoll sind in der fertiggestellten Review in Abschnitt 5.2 begründet dokumentiert.
Ursprünglich hatten die Autoren vor, die Auswirkung von HF-EMF auf die kognitive Fähigkeiten von Menschen in den folgenden sieben Domänen (Bereiche der Kognition mit bis zu drei Unterklassen) zu untersuchen:
1. Aufmerksamkeit und Konzentration: Fähigkeit, sich auf eine Aufgabe zu fokussieren und Ablenkungen zu ignorieren.
2. Wahrnehmung: Fähigkeit, Informationen aus der Umwelt durch unsere Sinne aufzunehmen, zu verarbeiten und zu interpretieren.
3. Gedächtnis: Fähigkeit, Informationen zu speichern und abzurufen.
4. Sprache: Fähigkeit, Sprache zu verstehen und zu produzieren.
5. Räumliches Denken und motorische Fähigkeiten: Fähigkeiten, räumliche Beziehungen zu erkennen und zu interpretieren und Bewegungen zu koordinieren und auszuführen.
6. Begriffsbildung und Argumentation: Fähigkeit, Konzepte zu entwickeln und logische Schlussfolgerungen zu ziehen.
7. Exekutive Funktionen: Fähigkeiten wie Planung, Problemlösung und Entscheidungsfindung.
Von den sieben Domänen blieben jedoch nur sechs übrig. Denn trotz intensiver Suche mit anfangs 57'543 Suchtreffern konnten die Autoren in der Domäne "Exekutive Funktionen" erstaunlicherweise keine Primärstudie ausfindig machen, die den Einschlusskriterien entsprach.
Methodik
Die beiden Originaldokumente (Protokoll und Review) beschreiben die von den Autoren angewandte Methodik für Fachleute detailliert. Für Zaungäste, zu denen ich auch mich zähle, ist die Methodik jedoch ein Buch mit sieben Siegeln. Deshalb hier, um wenigstens den Schein zu wahren, nur ein paar für die meisten ziemlich unverständliche Zeilen über die Spitze des Eisbergs.
Für die Bewertung der Qualität eingeschlossener Primärstudien benutzten die Autoren ein von der US-amerikanischen Gruppe Health Assessment and Translation (HAT, früher OHAT) entwickeltes Risk-of-Bias-Tool. Anlässlich ihrer Metaanalysen haben die Autoren für jeden beobachteten Effekt, bei dem mindestens zwei Primärstudien sinnvoll kombinierbare numerische Werte lieferten, die Effektstärke mit einer nach dem US-Statistiker Larry V. Hedges benannten Methode geschätzt. Ergebnisse < 0 weisen auf einen negativen Effekt hin (z.B. längere Reaktionszeit oder geringere Genauigkeit), Ergebnisse > 0 weisen auf einen positiven Effekt hin (z.B. kürzere Reaktionszeit oder höhere Genauigkeit). Schließlich wurde die Belastbarkeit der Evidenz für jedes identifizierte Ergebnis gemäß der Grade-Methode bewertet (Grading of Recommendations Assessment, Development and Evaluation).
Ergebnisse
Die Metaanalysen brachten für die sechs untersuchten Domänen (z.B. Aufmerksamkeit und Konzentration) inklusive Unterklassen (z.B. Konzentration) Ergebnisse für 17 kognitive Funktionen des Menschen hervor. Für überzeugte Mobilfunkgegner sind diese Ergebnisse ein Desaster. Denn bei keiner kognitiven Funktion wurde ein statistisch signifikanter Effekt von HF-EMF auf die kognitive Fähigkeiten im Vergleich zu Scheinexposition beobachtet. Genauere Angaben dazu, insbesondere welche kognitiven Funktionen von den erfreulichen Ergebnissen betroffen sind, nennt der Abstract der Review.
Mir war das schon vorher empirisch klar geworden. Denn als 2002 "unser" Mobilfunkmast auf dem Nachbardach errichtet wurde, orakelten befreundete Mobilfunkgegner, unsere damals kleinen Kinder, die in ihren Zimmern unterm Dach in nur 16 Meter Abstand zum Funkmasten aufwuchsen, würden unter der HF-EMF-Exposition verblöden. Tolle Verheißung! Inzwischen sind meine drei Kinder groß geworden. Zwei haben fertig studiert (Betriebswirtschaft, System-Engineering) und stehen erfolgreich im Berufsleben, das jüngste studiert derzeit Psychologie und will danach Philosophie studieren. Noch Fragen?
Empfehlungen der Studienautoren
Obwohl die Anzahl der Studien und Teilnehmer für mehrere Bereiche/Unterklassen gering ist, ist die Sicherheit der Evidenz für das Fehlen eines Effekts nur für die Geschwindigkeitskategorie von Domäne 5 "Räumliches Denken und motorische Fähigkeiten" sehr gering. Nur zwei kleine Studien mit einer Gesamtzahl von 42 Teilnehmern tragen zu dem Ergebnis mit erheblicher Heterogenität bei, und die Beweislage deutet auf einen großen negativen Effekt mit sehr geringer Sicherheit hin. Weitere Studien sind erforderlich, um diesen Effekt zu bestätigen oder zu widerlegen. Insbesondere sollten alle in beiden Studien verwendeten Ergebnismaße berücksichtigt und numerisch angegeben werden.
Die Anzahl der Studien, die altersspezifische Informationen über die Auswirkungen von HF-EMF auf die kognitive Leistungsfähigkeit liefern, ist gering. Insbesondere wurden nur fünf der eingeschlossenen Studien an Kindern und nur eine an älteren Menschen durchgeführt. Da Kinder im Allgemeinen als eine empfindliche Gruppe angesehen werden und die kognitive Leistung mit dem Alter tendenziell abnimmt, werden Studien an Kindern/Jugendlichen und an älteren Menschen empfohlen, um zu untersuchen, ob diese beiden Altersgruppen stärker durch HF EMF-Exposition beeinträchtigt werden als junge Erwachsene. Da die Subgruppen-Analysen (Supplementary Data 11) schwache Hinweise auf einen möglichen Effekt des Geschlechts liefern, werden nach Geschlecht der Teilnehmer geschichtete Analysen empfohlen.
Generell sollte jede neue Studie so angelegt sein, dass ein möglicher RoB minimiert wird. Die Kriterien für einen definitiv niedrigen RoB sind in Supplementary Data 7 des Protokolls zusammengefasst (Pophof et al. 2021). Darüber hinaus sollten vor dem endgültigen Studiendesign Power-Berechnungen durchgeführt werden. Die Studienpower sollte ausreichen, um auch kleine Effekte nachzuweisen. Eine umfassende Liste weiterer Aspekte, die bei der Durchführung von Studien zu möglichen Auswirkungen von HF-EMF auf die kognitive Leistungsfähigkeit berücksichtigt werden sollten, ist in Regel und Achermann (2011) veröffentlicht.
Autoren zukünftiger Studien werden ermutigt, die individuellen Originaldaten in geeigneten Datenspeichern öffentlich zugänglich zu machen, um fehlende Daten aufgrund unvollständiger Berichterstattung zu vermeiden.
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –