Opfer von Selbstdarstellern: schon vor 150 Jahren (Berichtigungen)

H. Lamarr @, München, Montag, 10.08.2015, 18:00 (vor 3411 Tagen) @ H. Lamarr

In der internationalen Anti-Mobilfunk-Szene gibt es eine ganze Reihe von selbsternannten Schutzpatronen, die sich vordergründig für die Belange überzeugter Elektrosensibler einsetzen und z.B. funkfeldfreie "Schutzzonen" für ihre angebliche Klientel fordern. Tatsächlich handelt es sich bei den vermeintlichen Schutzpatronen jedoch in aller Regel um Selbstdarsteller, für die die "Elektrosensiblen" lediglich Mittel zum Zweck sind. Typisches Beispiel eines solchen Selbstdarstellers ist der scheidende Gigaherz-Präsident Hans-U. Jakob, der nur dann etwas für "Elektrosensible" tut, wenn er damit öffentlich auftrumpfen kann in der Hoffnung, Aufmerksamkeit und Anerkennung zu ernten (Beispiel).

Diese Instrumentalisierung von Kranken ist alles andere als eine Zeiterscheinung, wie einem Spiegel-Artikel über eine junge Frau, genannt Augustine, zu entnehmen ist, die vor rd. 150 Jahren einem Neurologen als öffentlichkeitswirksames Fallbeispiel für Hysterie diente. Nachfolgend ein Auszug aus diesem Artikel:

Als Augustine 1873 in die Salpêtrière eingewiesen wird, ist sie 15 Jahre alt. Seit zwei Jahren plagen sie hysterische Attacken, unkontrollierbare Bewegungen, begleitet von heftigen Unterleibsschmerzen. Sie ist eine von über 4000 internierten Frauen in der Klinik. Eine Statistik des zuständigen Präfekten aus dem Jahr 1862 protokolliert das Elend zwischen den Mauern der Psychiatrie: ein Arzt für 500 Kranke, rund 250 Todesfälle im Jahr, eine Genesungsquote von unter zehn Prozent. "Weibliche Hölle" nennen die Pariser die Salpêtrière, eine "zweite Bastille". Mit seinen Kerkern, Gummizellen und Wachtposten ist Frankreichs größtes Hospiz mehr Zuchthaus als Heilanstalt.

Unter all den Internierten fällt Augustine dem Nervenarzt Charcot besonders auf. Begeistert notiert er in seinen Aufzeichnungen, sie sei hübsch, groß, stark, kokett, aktiv, intelligent, zärtlich, etwas launisch. Und: "Sie mag es, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen." Augustine ist nicht ihr richtiger Name, die Ärzte geben ihn ihr. Was das Mädchen sagt, wie es sich fühlt, ist in Charcots Schriften und Bildersammlungen nicht überliefert. Um die Heilung des Leidens geht es dem Arzt nicht, mehr noch, er verhindert die Genesung willentlich, sonst verlöre er sein Studienobjekt. Er opfert Augustine für die Erforschung einer Krankheit. Schließlich sind viele vor ihm an einer Einordnung des Leidens gescheitert.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Funkloch, Schutzzonen, Opfer, Hoffnung, Instrumentalisierung, Hysterie, Fallbeispiel


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