NTP-Studie: Diagnose-Funk peinlich berührt (Forschung)
Wenn man sich angesichts der neuen Veröffentlichung anschaut, wie sich die Dilettanten von Diagnose-Funk seinerzeit wegen der hagelnden Kritik an der Erstveröffentlichung der NTP-Studie gespreizt haben, dann muss dem Verein diese Veröffentlichung von damals heute ziemlich peinlich sein.
Der Link im Zitat ist tot, denn Diagnose-Funk bietet den Beitrag inzwischen als PDF auf der Website seiner Alarmstudiendatenbank EMF-Data an.
Warum sollte der Beitrag dem Verein peinlich sein?
Zum Beispiel wegen folgender Passage, mit der Diagnose-Funk irrationale Ängste vor Hirntumoren befeuern möchte. Dreh- und Angelpunkte im Text habe ich rot markiert:
Signifikanter Anstieg von Krebs bei Kindern und Jugendlichen in den USA
[...]
Eine aktuelle Auswertung der Krebsstatistik der USA dokumentiert signifikante Anstiege von Krebs bei Kindern und Jugendlichen: „Die Fälle von gutartigen Tumoren des zentralen Nervensystems haben jedoch deutlich zugenommen. Zum Vergleich kam es bei Jugendlichen zu einer Zunahme von bösartigen und gutartigen Tumoren des zentralen Nervensystems. Bei Kindern kam es zu einer Zunahme von akuter myeloischer Leukämie, Non-Hodgkin-Lymphomen sowie bösartigen Tumoren des zentralen Nervensystems.“ (S. 102)
In der Studie wird ausdrücklich erwähnt: „Insgesamt gab es eine deutliche Zunahme von gutartigen Tumoren des zentralen Nervensystems. In mehreren aktuelleren Analysen wurde versucht festzustellen, ob es zu deutlichen Veränderungen beim Auftreten von Tumoren im zentralen Nervensystem gekommen ist. Bei manchen wurde an einer Bewertung von Trends gearbeitet, die möglicherweise mit der Verbreitung von Handys in Zusammenhang gebracht werden können.“ (S.109) (2)
Wie bei Diagnose-Funk üblich hat der Verein aus dem elfseitigen Text der Originalstudie nur die Rosinen herausgepickt, die zum Alarmieren taugen und alles andere unter den Tisch fallen lassen. Damit das nicht so auffällt, macht der Verein zwar die bibliografischen Angaben zu der Studie, verkneift es sich aber, mutmaßlich im Vertrauen auf die Faulheit seiner Anhänger, einen Link auf den gratis angebotenen Volltext zu setzen.
► Der Verein verschweigt, dass die (2015 veröffentlichte) Studie nur das Zeitfenster 2000 (stellenweise 2004) bis 2010 betrachtet. Das ist wegen der langen Latenzzeiten von Hirntumoren von Bedeutung. Kundi, von Diagnose-Funk sehr geschätzt, geht von 20 bis 40 Jahren Latenz aus. Trifft dies zu, zeigt die besagte Studie Fälle, bei denen die krebsauslösende Einwirkung im Zeitfenster 1960 bis 1990 stattgefunden haben muss. In diesem Zeitfenster gab es den digitalen Massenfunk, der in den 1990er Jahren weltweit einsetzte, noch nicht.
► Der Verein verschweigt, die Krebsinzidenz in USA ist dem Abstract der Studie zufolge insgesamt rückläufig.
► Der Verein verschweigt, im besagten Zeitfenster beobachteten die Wissenschaftler bei Erwachsenen einen statistisch signifikanten Rückgang der häufigsten Krebsfälle (Magen, Lunge, Brust, Prostata) und der bösartigen Tumoren des zentralen Nervensystems.
► Der Verein versucht mit der Überschrift "Signifikanter Anstieg von Krebs ..." den irreführenden Eindruck zu erwecken, ZNS/Hirn-Tumorfälle hätten bei Kindern und Jugendlichen in USA dramatisch zugenommen. Dieser Eindruck ist falsch. Im wissenschaftlichen Kontext hat "signifikant" nicht die umgangssprachliche Bedeutung von erheblich, deutlich, wichtig oder wesentlich, sondern besagt lediglich, dass eine Beobachtung sehr wahrscheinlich nicht dem Zufall geschuldet ist. So ist der von der Studie dokumentierte Anstieg der standardisierten Inzidenzrate bei Jugendlichen (B) und Kindern (C) für gutartige ZNS/Hirn-Tumoren zwar erkennbar, aber alles andere als dramatisch (siehe Screenshot)! Die mit grau-grünen Ringen markierten Kurven in der Grafik sind der Zeitverlauf der gutartigen ZNS/Hirn-Tumoren. Bei Jugendlichen (B) erkrankten 2010 von 100'000 US-Amerikanern 3½ an einem gutartige ZNS/Hirn-Tumor, im Jahr 2004 waren es 2½ Personen gewesen.
Grafik: Trends in Central Nervous System Tumor Incidence Relative to Other Common Cancers in Adults, Adolescents, and Children in the United States, 2000 to 2010
► Die von Diagnose-Funk betonte deutliche Zunahme der gutartigen ZNS/Hirn-Tumoren in USA kann den Studienautoren zufolge gut und gerne eine strukturelle Ursache haben. Denn die Meldung solcher Tumoren wurde in den USA erst ab 2004 gesetzlich verpflichtend! Mehrere staatliche Register haben allerdings diese Daten bereits vor Verabschiedung des Gesetzes sowohl aktiv als auch passiv erhoben. Wegen des kurzen Zeitraums, in dem die Meldung gutartiger ZNS/Hirn-Tumoren verpflichtend war, ist es den Autoren zufolge jedoch schwierig festzustellen, ob der offensichtliche Anstieg dieser Tumorzahlen auf Verbesserungen bei der Erfassung der Fälle zurückzuführen ist. Diagnose-Funk belastet seine Anhänger nicht mit solchen Details, möglicherweise deshalb nicht, weil der Autor des Diagnose-Funk-Beitrags übers Lesen des Abstracts nicht hinausgekommen ist.
Damit lasse ich's gut sein, wohl wissend, dass Diagnose-Funk in dem Beitrag noch viel mehr Quatsch auftischt. Doch 2016 hegte mit James Lin ein Berufener als ich Zweifel an der seinerzeit erstmals präsentierten NTP-Studie. Lin war damals noch Mitglied der Icnirp-Kommission und deshalb für den Stuttgarter Verein das Böse schlechthin. Und es war Lin, der sich 2011 wegen Ron Melnick, mit Iarc anlegte. Aber: 2016 schied Lin aus der Kommission aus und schlägt seit 2018 mobilfunkkritische Töne an. Das blieb in Stuttgart nicht unbemerkt. Diagnose-Funk missachtete Lin nicht länger, begrüßte den US-Amerikaner schwanzwedelnd und ging abrupt auf Kuschelkurs.
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
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