"Thank you for Calling": Spatenpaulis Filmkritik (I) (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 28.02.2016, 15:55 (vor 3213 Tagen)

Der Anti-Mobilfunk-Film "Thank you for Calling" ist suggestiv und zieht unvorbereitete Zuschauer in seinen Bann. Aus den hier im Forum gesammelten Einwänden ist die folgende Filmkritik entstanden, die dem Zuschauer eine distanziertere Betrachtung des Gezeigten ermöglichen will:

Einseitigkeit: Wissenschaft lebt von der Kontroverse. Der Film lässt jedoch nahezu ausschließlich Wissenschaftler zu Wort kommen, die ein Hirntumorrisiko infolge Handynutzung bejahen. Dies ist eine grobe Verzerrung der Realität, denn tatsächlich gibt es nur wenige Forscher, die ein Hirntumorrisiko bejahen. Die weit überwiegende Mehrheit der Forscher sieht aufgrund der heute vorliegenden Erkenntnisse kein Hirntumorrisiko.

Gegenstimme entwerten: Bringt der Film überhaupt einmal eine Gegenstimme wie den Forscher Mike Repacholi, wird dieser als käuflich hingestellt. Die Behauptung, Repacholi habe Industriegeld angenommen, wurde 2005 von dem Amerikaner Louis Slesin (microwavenews) in die Welt gesetzt, ohne Belege beizubringen. Eine unabhängige Bestätigung des Bestechungsvorwurfs fehlt.

Selektiv informieren: Die manipulative Absicht des Films wird an einer Passage mit Kurt Straif (IARC) besonders deutlich. Straif ist für die IARC-Monografie verantwortlich, die im Jahr 2011 EMF als "möglicherweise krebserregend" eingestuft hat. Straif kommt im Film auch zu Wort, sagt jedoch nichts über die Bewertung der Krebsagentur. Dass Straif et al. im Jahr 2014 die Bewertung der IARC infrage gestellt haben, darüber schweigt der Film. Stattdessen wird nach den Szenen mit Straif die IARC-Presseinformation des Jahres 2011 gezeigt, als ob dies der jüngste Kenntnisstand Straifs sei.

Hauptperson fehlt: Lennart Hardell ist mit Blick auf Hintumoren infolge EMF-Einwirkung der weltweit maßgebende Forscher. Der Epidemiologe gilt als wichtigster Belastungszeuge für ein Hirntumorrisiko. Der Film aber macht um Hardell einen großen Bogen, stattdessen kommen Wissenschaftler aus der zweiten und dritten Reihe zu Wort.

Entwarnendes weglassen: Forscher wie Little et al. und Deltour et al. haben vergeblich versucht, das von Hardell reklamierte Hintumorrisiko in den Hirntumorstatistikiken unterschiedlicher Länder wieder zu finden. Der Film schweigt über diese substanzielle Entwarnung.

Recycling von Archivmaterial: In den Film "Thank you for Calling" sind zahlreiche Szenen aus dem älteren Scheidsteger-Film "Der Handykrieg" eingeschnitten. Schätzungsweise 70 Prozent der Spielzeit werden mit diesem bis zu elf Jahre alten Archivmaterial bestritten. Da die übliche Einblendung "Archivmaterial" fehlt, nur zu Beginn einer Szene kurz Jahreszahlen genannt werden und die Übergänge zu aktuellen Szenen fließend sind, kann ein Zuschauer altes und neues Material schlecht oder gar nicht auseinander halten.

Belangloses Geheimpapier: Das dramatisch angekündigte Papier "War Game Memo" der PR-Agentur Burson Marsteller aus dem Jahr 1994 soll Regieanweisungen enthalten, wie mit kritischen Wissenschaftlern umzugehen ist. Die Ankündigung weckt Erwartungen, die der Film in keiner Weise erfüllt. Ob das gezeigte Dokument tatsächlich wie behauptet von Motorola bei der Agentur bestellt wurde, ist unklar. Und brisant sind die angeblich geheimen "Regieanweisungen" keineswegs, wer sich mit den Machenschaften der Tabakindustrie auseinander gesetzt hat kennt sie seit langem. Das Stichwort lautet: Ridikülisierung. Ob Burson Marsteller die einst für Big Tobacco ersonnene Regieanweisungen noch einmal der Mobilfunkindustrie verkauft hat ist nicht bekannt.

Big Tobacco im Boot: Der Film zeigt Franz Adlkofer in seiner Funktion als Koordinator des "Reflex"-Forschungsprojekts, das im Reagenzglas unter Funkeinwirkung DNA-Doppelstrangbrüche entdeckt haben will. Die Vergangenheit Adlkofers als wichtigster Tabaklobbyist Deutschlands bleibt ebenso unerwähnt wie die schwerwiegenden Fälschungsvorwürfe gegenüber "Reflex" unerwähnt bleiben. Die Tabakindustrie steht im begründeten Verdacht, von den Risiken des Rauchens abzulenken, indem sie gezielt andere Risiken (echte wie vermeintliche, u.a. "Mobilfunkstrahlung") erforschen und medial vermarkten lässt. Stichwort: Zweifel säen ist unser Geschäft.

Umstrittener Hauptdarsteller: Tragende Figur des Films ist Scheidsteger-Intimus Dr. George L. Carlo. Der US-Amerikaner ist eine schillernde Figur, um 2007 versuchte er mit Hilfe hiesiger Mobilfunkgegner (erfolglos) auch in Deutschland Fuß zu fassen. Carlo galt als beflissener Verharmloser von Risiken des Dioxins und des Tabaks, bevor er für das Thema Mobilfunk engagiert wurde. Der Film zeigt von Carlo allein die Seite des unermüdlichen Mobilfunkkritikers, die zahlreichen Flecken auf Carlos Weste bleiben unerwähnt.

Selektiv informieren: Klaus Scheidsteger bedient sich Louis Slesins, um in seinem Film Mike Repacholi unglaubwürdig zu machen (siehe oben). Die vernichtende Kritik Slesins an den angeblich hochwertigen alarmierenden Forschungsergebnissen George Carlos ist Scheidsteger dagegen keine Silbe wert.

Viel Wind um Nichts: Der Dokumentarfilm ist eine nichtfiktionale Filmgattung, die bestrebt ist, tatsächliches Geschehen oder Aspekte dessen möglichst genau abzubilden, heißt es in Wikipedia. Mit teils nachgespielten Szenen erfüllt der Film diesen Anspruch. Das genaue Abbilden beschränkt sich jedoch allein auf die Sichtweise des Filmemachers, der für meinen Geschmack aufdringlich oft im Bild ist. Daraus resultiert die Schieflage dieser Dokumentation, die dem Zuschauer weder die Wirklichkeit noch die Wahrheit belastbar näher bringt, sondern sich in Mutmaßungen, Behauptungen und Unterstellungen ergeht. Wer die Anti-Mobilfunk-Szene kennt, wird davon nicht überrascht sein.

Dramatik: Mit seinem Film adressiert Klaus Scheidsteger den Bauch der Zuschauer, nicht deren Kopf. Dafür spricht die dramatische Aufmachung, die sich in spannungsgeladenen Schnitten, dramaturgischen Stopps, verschwörerischer Stimme und düsterer musikalischer Untermalung manifestiert. Um den Kopf anzusprechen hätte es belastbarer substanzieller Fakten bedurft. Diese aber glänzen durch Abwesenheit.

Pseudowissenschaft: Klaus Scheidsteger ist Filmemacher, gelernt hat er Journalismus, nicht Physik. Deshalb kann er Pseudowissenschaft nicht von Wissenschaft unterscheiden. Starker Tobak? Nein, hier ist ein Essay des Filmemachers zu lesen (Quelle: Bürgerwelle), in dem er die Zurückhaltung der öffentlich rechtlichen Medien seinem Film "Der Handykrieg" gegenüber beklagt und ein Produkt der pseudowissenschaftlichen Esoterik, gemeint ist der Handychip EMX, als "Scoop" (Knüller) seines Films rühmt. Über diese Gutgläubigkeit kann einem der Atem stocken, andererseits erklärt sie, warum Herr Scheidsteger ausgesucht wurde, Anti-Mobilfunk-Filme zu machen.

Sekundärquellen: Als Journalist sollte Herr Scheidsteger über die Bedeutung von Primär- und Sekundärquellen Bescheid wissen. Dennoch bringt er 20 Jahre alte Bilder des emeritierten Wissenschaftlers Om Gandhi (University of Utah) – diese zeigen die Eindringtiefe von Handystrahlung in den Kopf von Kindern und Erwachsenen – nicht im Original, sondern in einer leicht veränderten Version des Anti-Mobilfunk-Vereins Diagnose-Funk, den Scheidsteger (irreführend) als Quelle angibt. Zudem lässt der Filmemacher die Farbskala weg, mit der erst sich die Eindringtiefe überhaupt beurteilen lässt. Und er lässt weg, dass die Bilder für ein GSM900-Handy mit maximal 2 W Sendeleistung gelten. Doch GSM900 ist heute nahe am Ende seines Lebenszyklus' angekommen, jüngere Mobilfunktechniken kommen mit deutlich weniger maximaler Handysendeleistung aus: GSM1800 (1 W), UMTS (0,125 W), LTE (0,2 W). Om Gandhis Bilder wären mit heute üblicher Funktechnik weitaus weniger dramatisch, doch solche Bilder sieht der Zuschauer in "Thank you for Calling" (selbstverständlich) nicht.

Fortsetzung in Teil II

Weiter zu Teil III der Filmkritik an "Thank you for Calling"
Weiter zu Teil IV der Filmkritik an "Thank you for Calling"

[Admin: 13.09.16: Titel und Vorspann editiert; 24.07.17: "vernichtende Kritik" Slesins an Carlo mit Link belegt]

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

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