Wir üben Desinformieren (16): Lügen, ohne zu lügen (Allgemein)
Weil er so erfolgreich war, die Risiken des Rauchens in Deutschland herunterzuspielen, waren die Köpfe der deutschen Tabakindustrie mit Franz Adlkofer sehr zufrieden. 2009 demonstrierte Adlkofer sein Können in einem Interview anlässlich der Causa "Reflex". Ihm gelang es, seinen Interviewer anzulügen, ohne dass ihm eine Lüge nachzuweisen gewesen wäre. Sein Trick: Der Fehler entsteht erst im Kopf des Belogenen. Das schauen wir uns jetzt einmal aus der Nähe an.
Die Causa "Reflex" war der ab 2008 ausgetragene Streit um Fälschungsvorwürfe von Alexander Lerchl gegenüber Adlkofers "Reflex"-Projekt, das gesundheitsschädigende Effekte durch Mobilfunkstrahlung gefunden haben wollte. Adlkofer reagierte, indem er den wissenschaftlichen Streitfall in einen juristischen Streitfall verwandelte und versuchte, die Öffentlichkeit gegen seinen Kontrahenten zu mobilisieren. In diesem Kontext ist das Interview mit Adlkofer zu sehen, das die Zeitschrift "Provokant" in Ausgabe 1/2009 veröffentlichte. Alles, was man über das Blatt wissen muss, ist hier zu finden.
Provokante Hofberichterstattung
Das Interview ist ein Musterbeispiel für Verlautbarungsjournalismus, denn dem Koordinator des "Reflex"-Projekts wurden keine bohrenden Fragen zu den Fälschungsvorwürfen gestellt, sondern Fragen, die ihm Gelegenheit gaben, seine Interessen völlig ungestört zu vertreten.
Zu Adlkofers zentralen Interessen zählte es seinerzeit, den Eindruck zu erwecken, die von einer bösen Macht (Mobilfunkindustrie) angefeindeten Ergebnisse des "Reflex"-Projekts seien von guten Mächten in aller Welt bestätigt worden und deshalb valide. Provokant bediente dieses Interesse prompt mit der Passage:
Provokant: Werden Ihre Erkenntnisse durch andere, auch internationale Studien gestützt?
Adlkofer: Ja, unsere Befunde stehen im Einklang mit den Ergebnissen zahlreicher meist neuerer Untersuchungen, die die Veränderung in Struktur und Funktion von Genen in menschlichen und tierischen Zellen bestätigen. Dies wurde vor kurzem selbst von dem hoch angesehenen Wissenschaftsmagazin „Science“ eingeräumt. Zu Resultaten, die mit den unsrigen vergleichbar sind, gelangten u. a. auch Prof. Schär von der Universität Basel und Prof. Xu von der chinesischen Zheijiang Universität. Von beiden erhielt ich darüber entsprechende persönliche Mitteilungen, da die Ergebnisse bis anhin noch nicht publiziert wurden.
Der Ex-Tabaklobbyist erweckt hier den Eindruck, mit "Reflex" wäre alles in Ordnung und die Fachwelt stünde voll hinter den "Befunden" des Projekts. Wie sich später herausstellen sollte, war dies eine Irreführung erster Klasse. Denn ausnahmslos alle Replikationsversuche der umstrittenen Wiener Studien des Projekts scheiterten.
Was wurde Adlkofer von Primo Schär wirklich mitgeteilt?
Wie aber konnte Adlkofer 2009 behaupten, Prof. Schär von der Universität Basel wäre zu Resultaten gekommen, die "mit den unsrigen vergleichbar sind"? Diese Augenwischerei des Ex-Tabaklobbyisten ist wirklich bemerkenswert, denn Adlkofer musste damit rechnen, dass Primo Schär seine Behauptung mitbekommt und öffentlich Einspruch erhebt. Doch Schär schwieg. Warum? Der Sachverhalt, der hinter diesem Räsel steckt, ist so verrückt, dass man ihn kaum glauben mag.
Die Wiener Arbeitsgruppe des "Reflex-Projekts experimentierte nicht nur mit hochfrequenten elektromagnetischen Feldern (HF-EMF), sondern auch mit niederfrequenten Magnetfeldern (NF-MF). Beide Expositionen führten zu alarmierenden Ergebnissen, wobei Adlkofer jedoch nur die HF-EMF-Ergebnisse mit großem Nachdruck verbreitete und Mobilfunk zur Risikotechnik erklärte. Davon versprach er sich offenbar viel, die ebenfalls besorgniserregenden NF-MF-Ergebnisse ließ er hingegen links liegen.
Primo Schär replizierte in Basel erfolgreich jedoch nicht die HF-EMF-Ergebnisse des "Reflex"-Projekts, sondern die von Adlkofer vernachlässigten NF-MF-Ergebnisse! Bis darauf, dass beide Ergebnisse alarmierend sind, haben sie nichts miteinander zu tun, da die biologischen Folgen einer HF- oder NF-Exposition auf zwei völlig unterschiedlichen Wirkmodellen beruhen (Reizwirkung bei NF, Wärmewirkung bei HF).
Adlkofers Kunst der Irreführung beruht nun darauf, dass er mit seinem Interview die Leser so konditioniert, dass sie glauben müssen, alle seine Äußerungen würden sich auf die alarmierende Mobilfunkexposition beziehen (HF-EMF). Bei Adlkofers Verweis auf Schär trifft dies jedoch nicht zu, denn Schär hat ihm gegenüber in seiner persönlichen Mitteilung die erfolgreiche Replikation der NF-MF-Experimente bestätigt! Wer sich mit diesem Wissen oben das Zitat aus dem Interview noch einmal ansieht, wird feststellen können: Wer den wahren Sachverhalt nicht kennt, muss zu der falschen Einschätzung kommen, Schär hätte die erfolgreiche Replikation der HF-EMF-Experimente bestätigt.
In der bizarren Welt eines Selbstgewissen
Ein prominentes Opfer von Adlkofers Vernebelung der NF-MF- und HF-EMF-Studienergebnisse war 2009 der damalige Präsident des schweizerischen Anti-Mobilfunk-Vereins Gigaherz. Der Mann wollte selbst 2021 noch immer nicht wahrhaben, dass er die beiden Studienergebnisse ganz im Sinne von Adlkofer verwechselt hat. Erzählt wird diese bittersüße Geschichte über unbeirrbare Selbstgewissheit hier inklusive Quellenangaben.
Hintergrund
Auch Microwave News beteiligt sich an Desinformationskampagne
Alle Folgen der Reihe "Wir üben Desinformieren" ...
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –