Keine grenzenlose Schutzpflicht des Staates vor EMF-Immission (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Donnerstag, 14.12.2023, 14:39 (vor 199 Tagen)

Ist die Schutzpflicht des deutschen Staates gegenüber seinen Bürgern verletzt, wenn einige Wissenschaftler der Mehrheitsmeinung widersprechen, die derzeit geltenden HF-EMF-Grenzwerte gewährleisteten vollumfänglich den Schutz der Bevölkerung vor gesundheitlichen Folgen? Über diese Frage kann man streiten. Und es wurde gestritten. Vor dem Verwaltungsgericht Augsburg. Lesen Sie hier, zu welcher Einschätzung die Richter im Mai 2022 kamen.

Aus gegeben Anlässen (Anlass 1, Anlass 2) habe ich nach dem Begriff "standortbezogener Sicherheitsabstand" gegoogelt und bin auf das Urteil Au 9 K 20.2381 gestoßen. Es geht darin um einen Kläger, der mit seiner Klage eine von der Bundesnetzagentur erteilte Standortbescheinigung für eine Mobilfunksendeanlage angefochten hat und unterlag. Aus Sicht des Klägers verletzt der Staat mit der erteilten Betriebserlaubnis der Anlage seine Schutzpflicht. Die Richter folgten dieser Rechtsauffassung nicht:

[...] Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass die Grenzwerte nach § 2 der 26. BImSchV wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht unbeachtlich wären. Insbesondere fehlen Anhaltspunkte dafür, dass die in der 26. BImSchV normierten Anforderungen an den Betrieb von Hochfrequenzanlagen die Pflicht des Staates zum Schutz der menschlichen Gesundheit vor schädlichen Umwelteinwirkungen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzen.

Entgegen der Auffassung des Klägers ist diese staatliche Schutzpflicht nicht bereits dann verletzt, wenn einzelne Stimmen im fachwissenschaftlichen Schrifttum ein schärferes Vorgehen des Staates, etwa in Form strengerer Grenzwerte oder weitergehender Vorsorgepflichten, verlangen. Gerade weil es um die Bewertung komplexer Wirkungszusammenhänge geht und bei der Erfüllung der Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG auch konkurrierende öffentliche und private Interessen zu berücksichtigen sind, hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass hierfür in erster Linie der in § 23 BImSchG ermächtigte Verordnungsgeber in einem Verfahren unter parlamentarischer Beteiligung (§ 48b BImSchG) berufen ist (vgl. zuletzt BVerfG, B.v. 24.1.2007 - 1 BvR 382/05 - juris, Rn. 18). Auch ist in der Rechtsprechung geklärt, dass dem Verordnungsgeber bei der Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsbereich zukommt, der auch Raum lässt, konkurrierende öffentliche und private Interessen zu berücksichtigen. Die verfassungsrechtliche Schutzpflicht nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gebietet es danach nicht, alle nur denkbaren Schutzmaßnahmen zu treffen. Deren Verletzung kann vielmehr nur festgestellt werden, wenn die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrungen überhaupt nicht getroffen hat oder die getroffenen Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder erheblich dahinter zurückbleiben. Liegen noch keine verlässlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse über komplexe Gefährdungslagen - wie hier die schädlichen Wirkungen hochfrequenter elektromagnetischer Felder - vor, verlangt die staatliche Schutzpflicht auch von den Gerichten nicht, ungesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen mit Hilfe des Prozessrechts durch Beweisaufnahmen zur Durchsetzung zu verhelfen oder die Vorsorgeentscheidung des Verordnungsgebers unter Kontrolle zu halten und die Schutzeignung der Grenzwerte jeweils nach dem aktuellen Stand der Forschung zu beurteilen. Es ist vielmehr Sache des Verordnungsgebers, den Erkenntnisfortschritt der Wissenschaft mit geeigneten Mitteln nach allen Seiten zu beobachten und zu bewerten, um gegebenenfalls weitergehende Schutzmaßnahmen treffen zu können. Eine Verletzung der Nachbesserungspflicht durch den Verordnungsgeber kann gerichtlich erst festgestellt werden, wenn evident ist, dass eine ursprünglich rechtmäßige Regelung zum Schutz der Gesundheit aufgrund neuer Erkenntnisse oder einer veränderten Situation verfassungsrechtlich untragbar geworden ist. Dem hat sich das Bundesverwaltungsgericht und die obergerichtliche Rechtsprechung, namentlich auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, angeschlossen (vgl. BVerwG, GB v. 21.9.2010 - 7 A 7.10 - juris Rn. 17f.; B.v. 26.9.2013 - 4 VR 1.13 - juris; OVG Berlin-Bbg, B.v. 3.7.2014 - OVG 6 S 26.14 - juris Rn. 7f.; BayVGH, B.v. 14.6.2013 - 15 ZB 13.612 - Rn. 9). [...]

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Klage, Recht, Aktenzeichen, Irrweg


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