Italien hat Elektrosmog-Vorsorgewerte gelockert (II) (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Samstag, 29.12.2018, 19:17 (vor 2084 Tagen) @ H. Lamarr

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Parallele zur Lockerung der Schweizer Anlagegrenzwerte

Was in Italien inzwischen schon seit sechs Jahren Realität ist, der 24-Stunden-Mittelwert, lässt die Mobilfunknetzbetreiber in der Schweiz hoffen. Nachdem eine Lockerung der Schweizer Anlagegrenzwerte im März 2018 am Widerstand der kleinen Kammer des Parlaments scheiterte, wäre der Griff zum Mittelwert ein indirekter Weg, trotz Beibehaltung der geltenden Anlagegrenzwerte legal zum mehr Sendeleistung und damit zu mehr Datenübertragungskapazität zu kommen.

Bereits 2015 machte sich der Bundesrat (Regierung der Schweiz) Gedanken, auf welche Weise die Politik den Hunger der Bevölkerung und der Wirtschaft nach mehr Datenübertragungskapazität stillen könnte. Eine der Überlegungen galt dem italienischen Modell.

Gemäß Anhang 1 Ziffer 63 der eidgenössischen NIS-Verordnung (NISV) entspricht der für die Anlagegrenzwerte maßgebende Betriebszustand von Mobilfunkanlagen dem maximalen Gesprächs- und Datenverkehr bei maximaler Sendeleistung. Als maximale Sendeleistung gilt dabei nicht diejenige, die eine Sender-Endstufe zu leisten imstande ist, sondern diejenige, die der Netzbetreiber als Maximalwert deklariert und einstellt.

Die Netzbetreiber in der Schweiz kritisieren diese Festlegung als zu konservativ, da die maximale Sendeleistung nur kurzzeitig erreicht werde. Sie schlagen eine Referenzgröße vor, welche der effektiven Auslastung besser entspricht. Dies wäre dann der Fall, wenn anstelle der maximalen Sendeleistung ein Mittelwert über eine bestimmte Zeitperiode festgelegt würde.

Doch der Bundesrat (respektive mutmaßlich das Bundesamt für Kommunikation, Bakom) sah das 2015 anders. Der Bundesrat habe den maßgebenden Betriebszustand mit Blick auf einen einfachen und rechtssicheren Vollzug so festgelegt, dass die Einhaltung der Anlagegrenzwerte technisch und betrieblich möglich und wirtschaftlich tragbar sei. Die tatsächlich emittierte Sendeleistung wurde nicht in Betracht gezogen, weil sie im Tagesverlauf schwanke, langfristigen Trends unterworfen sei und deshalb für einen rechtssicheren Vollzug keine stabile Referenzgröße darstelle. Die Schwankungen seien zudem bei jeder Anlage anders.

Der Bundesrat erkannte in der Abkehr von der statischen Referenzgröße hin zu einer dynamischen, beispielsweise zu einem Mittelwert über 24 Stunden, einen Paradigmenwechsel. Um den bewilligungskonformen Betrieb nachweisen zu können, müsste die Sendeleistung permanent gemessen und die Werte auf Abruf hinterlegt werden. Der Aufwand für die Betreiber wäre äußerst groß. Gleichwohl könnten bei unveränderten Anlagegrenzwerten mit einem solchen Mittelwert als Referenzgröße die Sendeleistung und damit die Kapazität bestehender Sendeanlagen erhöht werden. Grob geschätzt wäre maximal eine Verdoppelung der Sendeleistung möglich, das Ausmaß der Kapazitätserhöhung wäre anlagespezifisch unterschiedlich. Bezüglich der Funkimmission im Einflussbereich der Sendeanlagen käme eine solche Neudefinition faktisch einer Erhöhung der Anlagegrenzwerte gleich.

Im Jahr 2015 hielt sich die Begeisterung des Bundesrates für das italienische Modell in engen Grenzen. Doch seither scheiterten in dem Alpenstaat zwei politische Vorstöße, die Anlagengrenzwerte auch nur moderat zu lockern, an weitgehend irrationalen Bedenken. Diese Niederlagen schränken den Handlungsspielraum des Bundesrates empfindlich ein. Da ein weiterer politischer Anlauf wenig erfolgversprechend ist, die Netzbetreiber zugleich wegen der kommenden Einführung der 5G-Netze Druck machen, hat der Bundesrat beim Bundesmt für Umwelt (Bafu) eine Revision der NISV über den Verordnungsweg in Auftrag gegeben. Gegenwärtig ist diese Revision in Arbeit, im 2. Quartal 2019 soll die öffentliche Vernehmlassung dazu starten. Dann wird sichtbar werden, ob die Eidgenossen sich für das italienischen Modell doch noch erwärmen konnten.

Quellen: Internationaler Vergleich der rechtlichen Regelungen im nichtionisierenden Bereich - Vorhaben 3614S80010
Zukunftstaugliche Mobilfunknetze: Bericht des Bundesrates in Erfüllung der Postulate Noser (12.3580) und FDP-Liberale Fraktion (14.3149)

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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