Induktive Ladestationen: Grenzwertparadoxon (Technik)

H. Lamarr @, München, Donnerstag, 22.02.2018, 20:32 (vor 2394 Tagen) @ H. Lamarr

Doch die unscheinbaren induktiven Ladestationen können in ihrem unmittelbaren Wirkungsbereich starke magnetische Wechselfelder deutlich oberhalb zulässiger Grenzwerte erzeugen. Dennoch müssen Anwender der Technik keine gesundheitlich nachteiligen Folgen fürchten.

Der Beitrag ist für technische Laien wie den Gigaherz-Präsidenten gedacht, die mit irgendwelchen Messgeräten in unmittelbarer Nähe von W-Lan-Routern, Smartphones oder DECT-Apparaten herumfuchteln und ihren verstörten Anhängern dann Messwerte von z.B. 76 V/m präsentieren, also Werte deutlich über den zulässigen Grenzwerten. Bei induktiven Ladegeräten könnten diese selbsternannten Experten mit noch viel dramatischeren Grenzwertüberschreitungen die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzen, hätten sie Zugriff auf die dazu erforderliche Messtechnik. Doch Messwerte nehmen und Messwerte richtig interpretieren sind zwei Paar Schuhe. Wer nur Zahlenwerte von numerischen Displays ablesen kann sollte besser die Finger von der Messung elektrotechnischer Größen lassen.

Wie dem im Beitrag verlinkten Forschungsbericht zu entnehmen ist, lassen sich an der Oberfläche induktiver Ladestationen des Qi-Standards magnetische Flussdichten von bis zu 1 mT (Peak) oder 200 µT (RMS) messen. Zulässig aber sind nur Werte von (je nach Frequenz) maximal 3,35 µT bis 6,25 μT. Wie kann es da sein, dass induktive Ladestationen im freien Handel überall zu erwerben sind? Die zulässigen Grenzwerte werden um Faktor 60 bis 300 überschritten!

Des Rätsels Lösung: Überschritten werden nur die abgeleiteten Grenzwerte (Referenzwerte). Die Gültigkeit dieser Grenzwerte setzt jedoch homogene Feldverhältnisse voraus wie sie nur im Fernfeld herrschen. Wo genau das Fernfeld beginnt ist in der Literatur nicht einheitlich definiert, üblicherweise werden als Grenze vier Wellenlängen Distanz zur Emissionsquelle angesehen, jüngerer Forschung zufolge soll das Fernfeld jedoch näherungsweise (geringer Fehler) schon nach nur 1 Wellenlänge herrschen. Bei den induktiven Ladestationen ist diese Differenzierung freilich hinfällig, denn wegen der niedrigen Frequenz der magnetischen Wechselfelder von ungefähr 150 kHz ist die Wellenlänge so groß, dass Messungen ohnehin stets im Nahfeld (weit unter 1 Wellenlänge) stattfinden. Dort aber herrschen inhomogene Feldverhältnisse, schon geringe räumliche Verschiebungen einer Feldsonde führen zu starken Messwertschwankungen. Unter diesen Umständen versagen die abgeleiteten Grenzwerte ihren Dienst und es müssen zur Bewertung der regulatorischen Unbedenklichkeit einer Ladestation die Basisgrenzwerte herangezogen werden (SAR-Wert oder elektrische Feldstärke im Gewebe). Üblicherweise wird dann wegen der Grenzen der Messtechnik nicht mehr gemessen, sondern die Immission an komplexen Rechenmodellen simuliert. So auch im konkreten Fall des Forschungsberichts. Das Ergebnis ist verblüffend: Trotz massiver Überschreitung der abgeleiteten Grenzwerte wird der Basisgrenzwert bezüglich der absorbierten Leistung (SAR) um mindestens Faktor 1000 unterschritten! Bei der induzierten elektrischen Feldstärke im Gewebe ist der Abstand (Sicherheitsreserve) zum zulässigen Basisgrenzwert ebenfalls gegeben, jedoch mit Faktor 10 erheblich kleiner als beim SAR-Wert.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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