Diagnose T78.4 - schließt psychische Reaktion ein (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Dienstag, 01.01.2013, 16:38 (vor 4326 Tagen)

Mit Hilfe eines ICD-10-Diagnosecodes versuchen Interessenvertreter von MCS und EHS, den psychischen Aspekt der Erkrankung mit vermeintlich amtlicher Bestätigung aus der Welt zu schaffen.

Offiziell werden in unserer Rechtsordnung in Deutschland besonders empfindliche Personengruppen, zu denen auch umwelterkrankte Menschen gehören (z. B. MCS-Kranke), rechtlich nicht geschützt. Obwohl z.B. die Multiple Chemikaliensensitivität (MCS) von der Weltgesundheitsorganisation als physisches und nicht psychisches Krankheitsgeschehen klassifiziert wurde (T78.4 im ICD-10-GM) und diese Diagnosen-Klassifikation u.a. nach dem Sozialgesetzbuch V (Krankenversicherungsrecht) in der Bundesrepublik Deutschland rechtlich verbindlich ist, wird diese Diagnosen-Klassifikation von öffentlich-rechtlichen Körperschaften (wie z. B. der Deutschen Rentenversicherung Bund) und vielen Gutachtern und auch Gerichten nicht berücksichtigt.

... schreibt Rechtsanwalt Wilhelm Krahn-Zembol.

Klingt erst einmal gut.

Aber stimmt es auch?

Wir haben die Probe aufs Exempel gemacht, bei der WHO nachgesehen, und stellen fest: Nein, die Darstellung des Anwalts stimmt so nicht, MCS wird in der Diagnosecodierung mit keinem Wort erwähnt. T78.4 ist gemäß WHO die Klassifizierung für Allergy, unspecified.

In der Deutschen Modifikation der ICD-10 (ICD-10 GM - German Modification) bedeutet der Code T78.4: Allergie, nicht näher bezeichnet. Die Einschlusskriterien dieser Diagnose dort lauten:

Allergische Reaktion o.n.A.
Idiosynkrasie o.n.A.
Überempfindlichkeit o.n.A.

Bemerkenswert ist das Kriterium Idiosynkrasie, denn es weist in eine Richtung, die von MCS und EHS stets mit großem Elan bekämpft wird, gemeint ist Psychiatrie und Psychosomatik. Wikipedia erklärt dies ausgesprochen anschaulich an zwei Beispielen.

Die Behauptung von Krahn-Zembol, MCS sei als "physisches und nicht psychisches Krankheitsgeschehen klassifiziert" worden, auch sie ist nicht sonderlich belastbar.

Richtig ist, dass die Diagnose T78.4 unter den Klassentitel "Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen" fällt. Dies allein als Beleg dafür zu werten, MCS/EHS sei kein psychisches Krankheitsgeschehen, ist jedoch zu kurz gegriffen. Das ausdrücklich genannte Diagnosekriterium Idiosynkrasie pulverisiert den Versuch, über die Diagnosecodierung der WHO den psychischen Aspekt bei überzeugten MCS und EHS elegant zu entsorgen. Der Code T78.4 kann vielmehr ausgesprochen treffend den psychosomatischen Effekt benennen, wie ihn typische EHS zum Beispiel beim Anblick eines Mobilfunk-Sendemasten erleben (äußere Ursache) oder beim Ansprechen eines Elektrosmog-Melders (äußere Ursache), den viele EHS ständig bei sich tragen.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
MCS, Krankenversicherung, Krahn-Zembol, Klassifizierung, Psychische Krankheit, RA, Krankheit, ICD-10, Umwelterkrankte

Diagnosecodes: Bedeutung der Zusatzkennzeichen

H. Lamarr @, München, Dienstag, 01.01.2013, 17:13 (vor 4326 Tagen) @ H. Lamarr

Mit Hilfe eines ICD-10-Diagnosecodes versuchen Interessenvertreter von MCS und EHS, den psychischen Aspekt der Erkrankung mit vermeintlich amtlicher Bestätigung aus der Welt zu schaffen.

Über die Sicherheit seiner Diagnose gibt der Arzt mit einem einzelnen Buchstaben Auskunft, den er hinter den Diagnosecode schreibt. Folgender Auszug aus einem Artikel des Ärzteblatts zeigt, was welcher Buchstabe bedeutet. Dieses Zusatzkennzeichen bezieht sich nur auf Diagnosecodes, stehen hinter ICD-10 die Buchstaben GM, bedeutet dies etwas ganz anderes, nämlich "German Modifikation" (deutsche Ausgabe) der ICD-10.

Zur Angabe der Diagnosensicherheit ist eines der nachgenannten Zusatzkennzeichen anzugeben (obligatorische Anwendung)*:

V für eine Verdachtsdiagnose

G für eine gesicherte Diagnose

A für eine ausgeschlossene Diagnose

Z für einen (symptomlosen) Zustand nach der betreffenden Diagnose

Die Zusatzkennzeichen sind auf jeden ICD-Kode getrennt anzuwenden. Das gilt auch bei Mehrfachkodierung nach dem Kreuz-Stern-System und für die Ausrufezeichen-Kodes (siehe AKR A08).

Auch wenn die Anwendung dieser Zusatzkennzeichen seit Jahren in der täglichen Praxis umgesetzt wird, soll hier noch einmal auf einige Sachverhalte im Detail eingegangen bzw. hingewiesen werden.

Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz und der damit verbundenen verstärkten Ausrichtung der Finanzierung an der Morbidität der Versicherten bekommen gesicherte Diagnosen eine zunehmende Bedeutung. Sie fließen in die Groupersysteme ein, die zur Ermittlung der Morbidität und für die Verteilung der Gelder aus dem Gesundheitsfonds an die Krankenkassen verwendet werden. In dem Zusammenhang treten vermehrt Fragen auf, wann kann oder muss das Zusatzkennzeichen „G“ verwendet werden, oder wer entscheidet das?

Explizit sei hier darauf hingewiesen, dass es nicht notwendig ist, zum Beispiel spezielle Untersuchungen, Facharztüberweisungen oder stationäre Aufenthalte zu initiieren, um das Zusatzkennzeichen „G“ zu kodieren, wenn dies aufgrund von medizinischen Kenntnissen, Erfahrungen und Fertigkeiten für nicht notwendig erachtet wird.

Die Expertise des behandelnden Arztes/Therapeuten bzw. Empfehlungen aus Leitlinien oder von Fachgesellschaften für die Diagnostik und Therapie von Krankheiten bleiben die Grundlage des ärztlichen Handelns. Die Ambulanten Kodierrichtlinien ändern daran nichts.

Unter dem Zusatzkennzeichen „G“ ist auch die Behandlungssituation geregelt, in der ein eindeutiger Nachweis, zum Beispiel in Form eines Laborwerts, einer histologischen Untersuchung oder eines sonstigen Befunds zur Sicherung einer Erkrankung, nicht möglich ist. Ist die Erkrankung nach dem klinischen Gesamtbild und dem Zusammenspiel aller vorliegenden Befunde und Angaben so wahrscheinlich, dass unverzüglich mit einer krankheitsspezifischen Therapie begonnen werden muss, kann sie als gesicherte Erkrankung kodiert werden. Dies ist unabhängig davon, ob ein Befund angefordert wurde und noch nicht vorliegt oder ob eine Befunderhebung überhaupt nicht möglich ist.

* Bekanntmachung des Bundesministeriums für Gesundheit gemäß den §§ 295 und 301 des Fünften Sozialgesetzbuches (SGB V) zur Anwendung des Diagnosenschlüssels

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MCS im Diagnosethesaurus erwähnt

H. Lamarr @, München, Freitag, 04.01.2013, 12:52 (vor 4323 Tagen) @ H. Lamarr

MCS wird in der Diagnosecodierung mit keinem Wort erwähnt.

Auf der Website Allum wird jedoch darauf hingewiesen, dass MCS im "Diagnosethesaurus" der ICD-10 GM erwähnt wird. Den gibt es als solchen inzwischen zwar nicht mehr, doch ein PDF des Diagnosethesaurus aus dem Jahr 2007 (916 Seiten) bestätigt die Darstellung von Allum.

Allum schreibt:

Die Erwähnung von MCS im ICD-10-Diagnosenthesaurus bedeutet nicht, dass MCS eine Anerkennung als "durch Umweltnoxen bedingte Krankheit" erfahren hat. Von Betroffenenverbänden wird dies allerdings meist anders gesehen.

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MCS im Diagnosethesaurus erwähnt

Kuddel, Samstag, 05.01.2013, 13:50 (vor 4322 Tagen) @ H. Lamarr

Irgendwo hatte ich als Defition für MCS mal den alternativen Begriff "Geruchsempfindlichkeit" gefunden, da man davon ausging, daß bestimmte Gerüche (unangenehme) Erinnerungen oder Ekel und damit Beschwerden auslösen.

Tags:
Ekel, MCS, Durftstoffe

Gegenstimme: medizinische Definition der Idiosynkrasie

Gast, Dienstag, 30.06.2015, 12:48 (vor 3416 Tagen) @ H. Lamarr

Richtig ist, dass die Diagnose T78.4 unter den Klassentitel "Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen" fällt. Dies allein als Beleg dafür zu werten, MCS/EHS sei kein psychisches Krankheitsgeschehen, ist jedoch zu kurz gegriffen. Das ausdrücklich genannte Diagnosekriterium Idiosynkrasie pulverisiert den Versuch, über die Diagnosecodierung der WHO den psychischen Aspekt bei überzeugten MCS und EHS elegant zu entsorgen. Der Code T78.4 kann vielmehr ausgesprochen treffend den psychosomatischen Effekt benennen, wie ihn typische EHS zum Beispiel beim Anblick eines Mobilfunk-Sendemasten erleben (äußere Ursache) oder beim Ansprechen eines Elektrosmog-Melders (äußere Ursache), den viele EHS ständig bei sich tragen.

Grüß Gott,
auf Ihrer seite schreiben Sie, das die "Idiosynkrasie" auf eine gewisse psychogenität hindeutet, was von den Interessenverbänden der MCS-Kranken abgewehrt wird.
Nun geht es ja hier um medizinische Sachverhalte und da muss man dann auch die medizinische definition des Wortes "Idiosynkrasie" zugrundelegen und nicht die Allgemeinde Definition.
Siehe hier:

https://de.wikipedia.org/wiki/Idiosynkrasie

Idiosynkrasie (griechisch ἰδιοσυνκρασία, „Selbst-Eigenheit/-Charakter“; idios „eigen, selbst“ und syn-krasis „Mischung, Zusammenmengung“) lässt sich am besten mit dem Wort „Eigentümlichkeit“ übersetzen. Je nach Kontext bezeichnet man mit Idiosynkrasie:

- im Allgemeinen ein (strukturelles, anatomisch-physisches oder Verhaltens-)Merkmal, welches besonders oder spezifisch für ein Individuum oder eine Gruppe ist,
- in der Medizin angeborene oder erworbene, z. T. schwer verlaufende Überempfindlichkeiten schon beim ersten Kontakt gegen bestimmte, von außen zugeführte Stoffe, die nicht durch eine Reaktion des Immunsystems hervorgerufen werden, sondern durch Fehlfunktion/Nichtfunktion defekter oder Fehlen intakter Enzyme, z. B. der Favismus (die Bohnenkrankheit); vergleiche auch Allergie, Pseudoallergie,

Insofern ist es falsch was Sie schreiben.
Mit freundlichen Grüßen
T. J.

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