Neues von Berenis (38): September 2024 (Forschung)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 20.10.2024, 20:11 (vor 4 Tagen)

Im Zeitraum von November 2023 bis Mitte Januar 2024 wurden 58 neue Publikationen identifiziert, von denen sechs von Berenis vertieft diskutiert wurden. Drei davon wurden gemäß den Auswahlkriterien als besonders relevant zur Bewertung ausgewählt, im Folgenden sind sie zusammengefasst. Darüber hinaus wird eine weitere Publikation, deren Veröffentlichungsdatum in den nächstfolgenden Erfassungszeitraum fällt, aufgrund der thematischen Überschneidung ebenfalls bereits in diesem Newsletter vorgestellt (Crespi et al. 2024). Mit Literaturangaben gibt es den aktuellen Berenis-Newsletter ungekürzt hier.

Experimentelle Tier- und Zellstudien

Hochfrequente elektromagnetische Felder und die Entwicklung von Zebrafisch-Embryos (Torres-Ruiz et al. 2024)
Der Einfluss von HF-EMF (700 und 3500 MHz) auf das Verhalten (Angst und Aktivität, Lernen, Gewöhnung an Stimuli) sowie mögliche morphologische Veränderungen (Augengrösse und Strukturen im Gleichgewichtsorgan) wurde von Torres-Ruiz et al. (2024) in Zebrafisch-Embryonen untersucht. Aufgrund gewisser Ähnlichkeiten zum Menschen eignen sich Zebrafische gut, um potentielle Gesundheitseffekte während der Entwicklung zu untersuchen. Die Studie basiert auf der Hypothese, dass frühe Stadien in der Embryonalentwicklung besonders empfindlich für Umwelteinflüsse sind. Zebrafisch-Embryonen wurden für 1 und 4 Stunden mit HF-EMFs exponiert, bei beiden Frequenzen mit einem Expositionslevel von 34-35 V/m, also unterhalb der von ICNIRP empfohlenen Grenzwerte (61 V/m für 3500 MHz und 36.4 V/m für 700 MHz) und SAR-Werten von 1-1.2 W/kg. Anschliessend wurden die Bewegungsaktivitäten bei Licht und Dunkelheit, die Toxizität sowie Effekte auf die Entwicklung, wie Gewöhnung an Geräusche und visuelle Stimuli untersucht. Nach 4 Stunden Exposition mit 700-MHz-HF-EMF wurde eine verminderte Aktivität (ca. 24%) sowie ein vermindertes Angstverhalten festgestellt, während bei 3500 MHz kein Effekt auf die Aktivität aber ein gesteigertes Angstverhalten dokumentiert wurde. Die Lernfähigkeit der Tiere war nach Exposition mit beiden Frequenzen vermindert. Nur bei 700 MHz HF-EMF-Exposition (1 und 4 Stunden) wurde eine signifikante Verminderung der Acetylcholinesterase um ca. 20% festgestellt. Hierbei handelt es sich um ein Enzym, welches im synaptischen Spalt den aktiven Neurotransmitter Acetylcholin inaktiviert. Somit ist permanent mehr Acetylcholin vorhanden, welches die Signalübermittlung zwischen Nervenzellen vermittelt und bei der Steuerung vieler Körperfunktionen, wie der Atmung, dem Gedächtnis, kognitiver Funktionen sowie der Muskelaktivität eine zentrale Rolle spielt. Dieser Befund kann zumindest teilweise die verminderte Aktivität erklären. Ergebnisse der Studie zeigen, dass die HF-EMF-Exposition bei 700 MHz (1 und 4 Stunden) sowie 3500 MHz (1 Stunde) eine verminderte Gewöhnung an Stimuli bewirkt und somit das nicht-assoziierte Lernen beeinträchtigt. Derartige Lernbeeinträchtigungen sind für Personen mit neurologischen Erkrankungen, wie Autismus, Parkinson, Schizophrenie oder Aufmerksamkeitsdefizit beschrieben.

Die HF-EMF-Exposition hatte keinen Einfluss auf Mortalität, das Schlüpfen oder die Körperlänge (insgesamt also der Embryonalentwicklung) der jungen Zebrafische. Es wurden also keine Hinweise gefunden, dass die kurzzeitigen Expositionen toxisch auf die Embryonalentwicklung wirkten. Geringe morphologische Veränderungen von Strukturen im Gleichgewichtsorgan sowie der Augengrösse (5%) wurden gesehen.

In dieser Studie wurde die Temperatur kontrolliert, aber es gab keine Scheinexposition, sondern lediglich eine Kontrollgruppe, die im selben Raum gehalten wurde. Generell waren diverse Effekte abhängig von der Frequenz und der Zeit der Exposition und die Effekte waren häufig stärker bei 700 MHz im Vergleich zu 3500 MHz.

Epidemiologische Studien

Wohnen in der Nähe von elektrischen Transformatoren und Risiko für Leukämie bei Kindern (Malavolti et al. 2024 und Crespi et al. 2024)
Sowohl Malavolti et al. (2024) als auch Crespi et al. (2024) untersuchten einen möglichen Zusammenhang zwischen Leukämie im Kindesalter und der Exposition mit niederfrequenten Magnetfeldern (NF-MF), insbesondere bedingt durch elektrische Transformatoren, die häufig in Wohngebäuden verwendet werden. Beide Studien fanden keine Hinweise auf einen solchen Zusammenhang.

Die Malavolti-Studie untersuchte 182 Fälle von Leukämie im Kindesalter und 726 Kontrollen, die nach Geschlecht, Geburtsjahr und Provinz (in Norditalien) ausgewählt wurden («matching»). Die Crespi- Studie berücksichtigte Fälle aus fünf Ländern (Finnland, Israel, Ungarn, Niederlande und Schweiz) und führte eine gepoolte Fall-Kontroll-Studie durch, die 76 Fälle und 20491 Kontrollen umfasste. Während die Malavolti-Studie alle Wohnungen im Umkreis von 15 oder 25 Metern um einen Transformator als hoch oder mittelhoch exponiert ansah, betrachtete die Crespi-Studie nur Wohnungen als exponiert, die direkt eine Wand oder einen Boden mit dem Transformatorraum teilen (und typischerweise einen Abstand von weniger als 15 Metern zum Transformator haben). Dennoch haben weder die Malavolti-Studie (mit 2 Fällen innerhalb des 15 Meter und 5 Fällen innerhalb des 25 Meter Radius) noch die Crespi-Studie (3 Fälle in der hohen Expositionskategorie und 16 mit mittlerer Exposition) viele Kinder als hoch exponiert eingestuft. Beide Studien räumen zu Recht ein, dass Szenarien mit hoher Exposition extrem selten sind, und dass die Erkennung eines Zusammenhangs mit einer ebenso seltenen Krankheit wie Leukämie selbst bei der Zusammenführung von Daten aus mehreren Ländern eher unwahrscheinlich ist.

Sowohl die Crespi-Studie (1.39; 95% Konfidenzintervall (KI): 0.77-2.52) als auch die Malavolti-Studie (1.0; 95% KI: 0.2-4.9) fanden ausschliesslich Odds Ratios, die auf keinen Zusammenhang hindeuten, umgeben von grossen Konfidenzintervallen für das Risiko, an Leukämie zu erkranken, wenn die NF-MF-Exposition durch Transformatoren hoch ist (innerhalb von 15 Metern bei Malavolti, Kategorie "hohe" Exposition bei Crespi). Die Berücksichtigung von Transformatoren in einem Umkreis von 25 Metern (Malavolti) oder einer mittleren Exposition (Crespi) hat die Ergebnisse nicht verändert. Auch eine spezifische Analyse von 2 hoch und 8 mittelhoch exponierten Fällen gegenüber 2396 und 15050 Kontrollen in einem Kohortenansatz («nested cohort»), bei dem nur die finnischen Daten verwendet wurden (Crespi), änderte nichts an den Schlussfolgerungen. Diese Analyse, bei der auch die Wohngeschichte berücksichtigt wurde, ergab gleichermassen unsichere Odds Ratios für hohe (1.7; 95% KI: 0.2-13.6) und mittlere Exposition (0.6; 95% KI: 0.1-2.6). Die in der Malavolti-Studie gefundene "stärkere Assoziation" bei Kindern ab 5.Jahren (1.3; 95% KI: 0.1-12.8) wird von den Autoren überinterpretiert und sie ignorieren das Ergebnis einer "schützenden" und ebenso unsicheren Assoziation bei Kindern unter 5.Jahren (0.7; 95% KI: 0.1-6.6). Kritisch zu sehen ist, dass beide Studien bei der Expositionsabschätzung davon ausgehen, dass die Entfernung zum Transformator ein Mass für die Stärke des Magnetfelds ist, was in Wirklichkeit aber ungleichmässig sein kann. Beide Studien halten die Möglichkeit einer gewissen Fehlklassifizierung der Exposition offen, und weisen darauf hin, dass es äusserst schwierig ist, Informationen über den genauen Standort und die Installationszeit von Transformatoren zu erhalten. Die wahrscheinlichste Erklärung für die ungenauen Ergebnisse ist jedoch die Kombination einer extrem seltenen Exposition mit einer extrem seltenen Krankheit.

Studien mit Menschen

Beeinflussen hochfrequente elektromagnetische Feldern den Schlaf von Frühgeborenen? (Besset et al. 2023)
Das Ziel der Studie war es, den Einfluss von HF-EMF auf das Schlafverhalten von Frühgeborenen zu untersuchen. Frühgeborene sind auf der neonatologischen Intensivstation konstant HF-EMF mit niedriger Intensität ausgesetzt. Die HF-EMF-Expositionslevel wurde kontinuierlich in den ersten 21 Tagen nach der Geburt an 29 Frühgeborenen (18.Mädchen, 11 Jungen) gemessen. Das Messgerät war jeweils an der Inkubatorwand angebracht. Nach dieser Zeit wurden zusätzlich der Schlaf über einen Zeitraum von 12 Stunden registriert und die Schlafparameter bestimmt. Die HF-EMF-Exposition über 3 Wochen (chronisch) war 0.03 ± 0.01 V/m auf dem Median Level (mittlere Exposition; vorherrschend während 50% der Zeit) und 0.24 ± 0.11 V/m auf der 99-Perzentile (hohe Exposition; vorherrschend während 1% der Zeit). Als akute Exposition wurden die entsprechenden Werte der letzten 24 Stunden verwendet (0.03 ± 0.02 und 0.12 ± 0.09 V/m). Um den Einfluss der Exposition zu bestimmen, wurden die Expositionswerte und Schlafparameter korreliert. Für die chronische Exposition bestand für mittlere und hohe Expositionswerte eine hauptsächlich positive Korrelation mit der Schlaffragmentierung. Während der akuten Exposition wiesen mittlere Expositionswerte eine negative Korrelation mit der Schlafperiode auf, während hohe Expositionswerte eine positive Korrelation mit der Schlaffragmentierung zeigten. Die Korrelationen erklären etwa 15-25% der Variation. Allerdings verschwindet die Signifikanz nach Korrektur für multiples Testen, was zu der Interpretation führt, dass HF-EMF-Exposition in der neonatologischen Intensivstation den Schlaf von Frühgeborenen nicht stört.

Die Studie zeigt einen interessanten Ansatz, um mögliche Auswirkungen von HF-EMF auf Frühgeborene zu untersuchen. Für Frühgeborene gibt es keine Alternative zur Intensivstation und somit gibt es auch keine Kontrollbedingung ohne HF-EMF-Exposition. Schlaf ist deshalb von Interesse, da eine zunehmende Schlafkontinuität ein Zeichen der Hirnreifung ist. Hier wurde eher eine Fragmentierung beobachtet. Allerdings ist es fraglich, ob Schlaf der ersten drei Lebenswochen etwas über die Hirnreifung aussagen kann. Hinzu kommt, dass es noch viele weitere wichtige Faktoren gibt, die in der Studie nicht berücksichtigt wurden, z.B. Kontakt mit Betreuenden, den Eltern, oder Lärm.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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