Neues von Berenis (30): Oktober 2022 (Allgemein)
Im Zeitraum von Mitte Oktober 2021 bis Mitte Januar 2022 wurden 123 neue Publikationen identifiziert, von denen acht von Berenis vertieft diskutiert wurden. Vier davon sind gemäß den Auswahlkriterien besonders relevant. Sie wurden somit zur Bewertung ausgewählt und werden im Folgenden gekürzt vorgestellt. Ungekürzt gibt es den aktuellen Berenis-Newsletter hier.
Experimentelle Tier- und Zellstudien
Kombinationseffekt von Umwelteinflüssen: HF-EMF und Hitzeakklimatisierung und Wirkungen auf
Angst und Depression unter Berücksichtigung der Darm-Gehirn-Achse (Luo et al. 2021)
Die Darmflora beeinflusst die Energiehomöostase, den Metabolismus, das Blut-Glukose-Gleichgewicht und die Immunantwort. Noch bedeutender ist ihre Rolle bei der Erhaltung physiologischer Funktionen im Gehirn. Sie trägt zu Verhalten, Gehirnentwicklung, Altern sowie zur Entstehung oder zum Krankheitsbild neurodegenerativer Erkrankungen bei. So kann eine Veränderung der Darmflora zu einer Veränderung der Mikroglia, also des Abwehrsystems im Gehirn führen. In der subchronischen in vivo Studie von Luo et al. (2021) wurden männliche Mäuse des Stammes C57BL/6J in vier Gruppen unterteilt, mit und ohne Hitzeakklimatisation (35 °C oder 28 °C) in den ersten 28 Tagen gefolgt von 5 Wochen HF-EMF-Exposition oder Scheinexposition. Dabei wurde die Wechselwirkung zwischen der Darm-Gehirn-Achse bei Mäusen unter HF-EMF-Einfluss (2450 MHz, 2 μs/Puls, 500 Pulse/Sekunde, 4 Stunden/Tag; Ganzkörper-SAR 2,5 W/kg) und Hitzeakklimatisierung (35°C anstatt 28°C) untersucht. Anhand von Verhaltenstests wurden Wirkungen wie Angst und Depression analysiert. Zudem wurde die Darmflora mittels Sequenzierung bestimmt, sowie Serumparameter wie beispielsweise Tryptophan und Phenylalanin, und auch Cholesterol und Fruktose, die in anderen Studien nachweislich mit Depression korreliert waren. Die Verhaltenstests ergaben keine Hinweise auf eine Beeinflussung des Angstverhaltens bei beiden Zeitpunkten, während die Tiere nach 5-wöchiger HF-EMF-Exposition vermehrt Anzeichen von Depression zeigten. [...] Die Autoren schlussfolgern, dass die beschriebene HF-EMF-Exposition zu depressionsähnlichen neurologischen Verhaltensstörungen führt, die möglicherweise auf ein Ungleichgewicht der Darmflora zurückzuführen sind. [...]
Epidemiologische Studien
Gehirntumor-Risiko im Alter vom 10 bis 24 Jahren und Nutzung von Mobil- und Schnurlostelefonen (Castaño-Vinyals et al. 2022)
In einer grossen und aufwendig konzipierten Fall-Kontroll-Studie («MOBI-Kids») wurde anhand von Daten aus 14 Ländern untersucht, ob die Nutzung von Mobil- und Schnurlostelefonen und die daraus resultierende Exposition mit HF-EMF und NF-MF das Risiko von Hirntumoren bei jungen Menschen erhöht (Castaño-Vinyals et al. 2022). Das Studienkollektiv setzte sich zusammen aus 899 Personen im Alter von 10 bis 24 Jahren, bei denen zwischen 2010 und 2015 ein Hirntumor diagnostiziert wurde, und 1'910 Kontrollpersonen im selben Alter und aus derselben Region, bei denen zum entsprechenden Zeitpunkt eine Blinddarmoperation durchgeführt wurde. Daten zur Nutzung von Mobil- und Schnurlostelefonen sowie anderen relevanten Faktoren wurden rückwirkend mit den Betroffenen und/oder den Eltern anhand von Fragebogen-Interviews erhoben. Zusätzlich wurde eine EMF-Dosisberechnung durchgeführt. Die Datenanalyse erfolgte getrennt in drei Altersgruppen (10 bis 14, 15 bis 19 und 20 bis 24 Jahre), um den altersbedingten Unterschieden in der Mobilfunknutzung Rechnung zu tragen. Gemäss den Hauptanalysen korrelierte eine zunehmende Nutzung von Mobil- und Schnurlostelefonen mit einer Abnahme des Risikos für Hirntumoren, insbesondere bei der Gruppe der 15-19-jährigen. Auch wenn die Analyse mit der kumulierten NF- oder HF-EMF-Dosis am Ort des Tumors statt mit der Nutzung durchgeführt wurde, ergaben sich ebenfalls abnehmende Risiken bei zunehmender Dosis. Weitergehende Analysen deuten jedoch darauf hin, dass dieser «schützende» Effekt nicht kausal ist. Wurden Nutzungsdaten innerhalb von fünf Jahren vor der Diagnose nicht berücksichtigt und nur Angaben der Studienteilnehmenden, statt derjenigen ihrer Eltern, in Betracht gezogen, war der «schützende» Effekt statistisch auch nicht mehr feststellbar [...]. Die Autorinnen und Autoren schlussfolgern, dass die Studie keinen Anhaltspunkt für einen kausalen Zusammenhang zwischen der Nutzung von Mobil- und Schnurlostelefonen und dem Auftreten von Gehirntumoren in der untersuchten Altersgruppe liefert, auch wenn ein geringes Restrisiko nicht vollständig auszuschliessen sei. Dass scheinbar «schützende» Effekte beobachtet wurden, liege zum einen an den ungenauen Nutzungsangaben durch die Eltern und zum anderen daran, dass Symptome vor der Diagnose zu einer verminderten Mobil- und Schnurlostelefonnutzung geführt hätten und nicht umgekehrt (umgekehrte Kausalität). Die von öffentlichen Geldern der beteiligten Länder und der EU finanzierte MOBI-Kids-Studie ist in dieser Altersgruppe die bisher grösste Studie zum Thema. Weitere Stärken der Studie sind beispielsweise, dass zahlreiche Sensitivitätsanalysen durchgeführt wurden, und dass sowohl hoch- als auch niederfrequente Strahlung eingeschlossen wurde. Fall-Kontroll-Studien beruhen jedoch auf rückwirkend gesammelten Informationen zur Exposition, welche mit Unsicherheiten behaftet sind. [...] Fall-Kontroll-Studien können kleine Risiken aufgrund der methodischen Unzulänglichkeiten nicht robust nachweisen. Substanzielle Hirntumorrisiken in dieser Altersklasse durch die Mobiltelefonnutzung müssten mittlerweile allerdings auch anhand von höheren Fallzahlen in Krebsregisterdaten erkennbar sein. In dieser Altersgruppe ist jedoch generell seit der Einführung von Mobiltelefonen keine verstärkte Zunahme der Hirntumoren feststellbar. [...]
Experimentelle Humanstudien
Hirnaktivität im Wachzustand und GSM-Exposition (Wallace et al. 2021a,b)
In den meisten bisherigen Studien zu HF-EMF-Exposition und Gehirnaktivität war die spontane Alpha-Aktivität verändert. Es wurden sowohl Zunahmen wie auch Abnahmen der Alpha-Aktivität berichtet. Zur Heterogenität der Ergebnisse trägt bei, dass es auch Studien ohne Effekte gibt. Ursachen für diese Heterogenität können vielfältig sein: z.B. Unterschiede in der Methodik, in den Versuchsprotokollen, in den angewendeten Frequenzen und Intensitäten, sowie im untersuchten Kollektiv. Wallace et al. (2021a,b) untersuchten 32 junge und gesunde Studienteilnehmende (rechtshändig, 17 Frauen). Diese wurden einem HF-EMF (GSM, 900 MHz, 217 Hz Modulation, 0,49 W/kg max. SAR (gemittelt über 10g Körpergewebe)) oder einer Scheinexposition für 25,5 Minuten ausgesetzt. Ein Mobiltelefon (aktiv oder sham) wurde mit einer Schlauchbinde am linken Ohr platziert (doppelblind, randomisiert, counter-balanced, crossover). Das Messprotokoll bestand aus einer Baseline-, Expositions-, und Nachexpositionsphase. Das Elektroenzephalogramm (EEG) und das Elektrokardiogramm (EKG) wurden durchgängig gemessen. In der Baseline- und Nachexpositionsphase wurde zusätzlich ein Magnetenzephalogramm (MEG) registriert. Das EEG erfasst die elektrische Komponente der Hirnaktivität und das MEG deren magnetische Komponente. Zusätzlich wurden vier Speichelproben genommen (am Anfang, vor und nach der Exposition, und am Schluss), um auf mögliche Stresseffekte zu testen. In einer ersten Publikation (32 Teilnehmende analysiert; Wallace et al. 2021a) wurden das MEG und die Stressfaktoren analysiert. Im MEG wurde der Effekt der Exposition auf die Alpha-Aktivität (8-12 Hz) nach der Exposition untersucht. Die Ergebnisse im Sensor- und Quellen-Raum (Abschätzung woher in der Grosshirnrinde (Cortex) die Aktivität herrührt) zeigten eine signifikante Abnahme der MEG-Alpha-Aktivität nach der GSM-Exposition, mit unterschiedlichen beteiligten kortikalen Regionen je nachdem ob die Augen offen oder geschlossen waren, wahrscheinlich aufgrund des unterschiedlichen Aufmerksamkeitsniveaus bei offenen oder geschlossenen Augen. Die Messungen der Herzfrequenz, der Herzfrequenzvariabilität (HRV), der Biomarker für Stress und die Koffeinanalyse zeigten keine Veränderungen und bedeuten, dass die Ergebnisse kaum durch Störfaktoren wie Stressverhalten oder Koffeinkonsum vor dem Experiment beeinflusst wurden. In einer zweiten Publikation (21 Teilnehmende analysiert, davon 10 Frauen, Wallace et al. 2021b) lag der Fokus auf dem EEG. EEG-Daten (Alpha-Aktivität) der Baseline- und Expositionsphase wurden analysiert. Alpha-Aktivität im Ruhezustand (Augen offen oder geschlossen) war während der GSM-Exposition im Vergleich zur Kontrolle nicht verändert [...].
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –