Neues von Berenis (29): Juni 2022 (Forschung)

H. Lamarr @, München, Montag, 20.06.2022, 00:39 (vor 1061 Tagen)

Im Zeitraum von Ende Juli bis Mitte Oktober 2021 wurden 82 neue Publikationen identifiziert, von denen sechs von Berenis vertieft diskutiert wurden. Drei davon sind gemäß den Auswahlkriterien besonders relevant. Sie wurden somit zur Bewertung ausgewählt und werden im Folgenden gekürzt vorgestellt. Ungekürzt gibt es den aktuellen Berenis-Newsletter hier.

Experimentelle Tier- und Zellstudien

Kombinationseffekt von Umwelteinflüssen: NF-MF und Plastikweichmacher (Chen et al. 2021)
In der in vitro Studie von Chen et al. (2021) wurde die Wechselwirkung zweier Umweltfaktoren auf die Vermehrung von menschlichen aus Eihaut gewonnenen Zellen untersucht. Bei den zwei Umweltfaktoren handelte es sich einerseits um ein 50 Hz NF-Magnetfeld (NF-MF), mit dem die Zellen für 1 bzw. 24 Stunden befeldet wurden, und andererseits um Diethylhexylphthalat (DEHP), einem industriell eingesetzten Weichmacher für Plastikprodukte. Die separate Exposition der Zellen mit jeweils einem der beiden Umweltfaktoren bei einer Dosis von 0,4 mT NF-MF oder 1 μM DEHP führte zu einer signifikanten Zunahme der Zellvermehrung um 10 %. Hingegen war dieser Effekt bei tieferen Dosen von 0,2 mT NF-MF oder 0,1 μM DEHP nicht nachweisbar. Wurden die beiden tieferen Expositionen allerdings gleichzeitig durchgeführt, führte dies zu einem signifikanten Anstieg der Zellvermehrung, was auf einen additiven Effekt der beiden Umweltfaktoren hinweist.
Im Weiteren wurde mittels pharmakologischer Inhibition und Bestimmung von aktivierten Signalproteinen die Signalkette identifiziert, die zu diesem additiven Effekt führte. [...] Diese Studie von Chen et al. (2021) zeigte also, dass die Kombination von 50 Hz NF-MF und DEHP bei tieferen Dosen als die jeweils einzelnen Expositionen die Zellproliferation erhöhte. Solchen Wechselwirkungen zwischen EMF und anderen Umwelteinflüssen bezüglich biologischen Auswirkungen wurde jüngst vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei wurde meistens beobachtet, dass eine EMF-Exposition zwar alleine eher marginale Effekte hervorrief, aber durchaus Zellreaktionen eines zweiten etablierten Umweltfaktors modulieren kann. Es bleibt aber abzuklären, ob solche additiven Effekte, wie sie in dieser Studie festgestellt wurden, allgemeingültig oder aber spezifisch für diesen Zelltyp beziehungsweise diese Kombination von Umweltfaktoren sind.

Vorübergehender mitochondrialer Stress durch HF-EMF (Xie et al. 2021)
In der in vitro Studie von Xie et al. (2021) wurde der Einfluss eines HF-EMF (900 MHz, nicht moduliert, mit 120 μW/cm² (laut Autoren ein SAR-Wert von 0,25 mW/kg) 4 Stunden pro Tag während 5 Tagen) auf Anzeichen für mitochondrialen Stress untersucht. Als Vergleich wurde ionisierende Röntgenstrahlung verwendet. Die Autoren untersuchten zwei Parameter der mitochondrialen Stressantwort, einerseits die Bildung von reaktiven sauerstoffhaltigen Molekülen (ROS) und andererseits die Zellantwort auf falsch gefaltete Proteine, jeweils 30 Minuten, 4 und 24 Stunden nach der letzten Exposition der Knochenmarkstammzellen von Mäusen. 30 Minuten nach der HF-EMF- Exposition war die Menge an ROS leicht erhöht, und diese Erhöhung war nach 4 Stunden noch nachweisbar. Im Vergleich zur Exposition mit Röntgenstrahlen war die Zunahme weniger stark ausgeprägt, wobei der Normalzustand in beiden Fällen nach 24 Stunden wiederhergestellt war. Das gleiche zeitliche Muster zeigte sich auch, wenn die Anzeichen für Proteinfalschfaltung angeschaut wurden. [...] Erwähnenswert ist dabei, dass die Effekte bei tiefer Exposition beobachtet wurden und den Effekten der als Positivkontrolle verwendeten ionisierenden Röntgenstrahlung ähnelten. Die Beobachtungen dieser Studie deuten darauf hin, dass die expositionsbedingten Hinweise auf mitochondrialen Stress vorübergehend sind, selbst nach mehrmaliger Exposition über 5 Tage. Allerdings gibt es bei dieser kleinen Studie zu bemängeln, dass die Exposition in einem System durchgeführt wurde, das nicht für Zellkulturen, sondern für Tiere konstruiert wurde, und dass die Dosimetrie unzureichend beschrieben beziehungsweise die Beschreibung der Dosimetrie schwer nachvollziehbar ist. Diese methodischen Unsicherheiten sollten also noch durch unabhängige Wiederholungen der Befunde reduziert werden.

Epidemiologische Studien

Niederfrequente Magnetfelder in Wohngebäuden und Hautkrebs (Khan et al. 2021a) sowie Hirntumore und Leukämien (Khan et al. 2021b)
Khan et al. (2021a) führten in Finnland eine Kohortenstudie zu NF-MF-Exposition durch Transformatoren in Wohngebäuden und Hautkrebs durch. Den Anstoss für die Studie gaben unter anderem neuere Erkenntnisse über mögliche Auswirkungen von NF-MF auf lichtinduzierte Radikalreaktionen bei hohen Expositionen. In die Studie eingeschlossen wurden 225'492 Personen, die in Gebäuden mit Transformatorräumen lebten. Die durchschnittliche Nachbeobachtungszeit betrug dabei rund 15 Jahre. Auf Grundlage einer Datenbank zu Gebäuden in Finnland mit Transformatoren im Innenbereich1 wurden 8'617 Personen, die seit mindestens sechs Monaten in einer Wohnung direkt über oder neben dem Transformatorraum lebten, als "exponiert" eingestuft. Diese wohnten alle entweder im Erdgeschoss oder im ersten Stock. Die übrigen Bewohnerinnen und Bewohner des Erdgeschosses und der ersten Etage (n=46’169) sowie der oberen Etagen (n=170'706) bildeten die Vergleichsgruppe. Anhand des finnischen Krebsregisters wurde für die Studienteilnehmenden ermittelt, ob Hautkrebsdiagnosen (Melanome und Plattenepithelkarzinome) ab einem Alter von 18 Jahren oder darüber vorlagen. Bei der Datenanalyse wurde auch das Alter beim Einzug sowie Geschlecht und Geburtsjahr berücksichtigt.
Insgesamt war das Risiko für exponierte Personen nicht erhöht, wobei 559 Fälle von Melanomen und 355 Fälle von Plattenepithelkarzinome ausgewertet werden konnten. Allerdings war bei exponierten Personen, die in den Wohnungen wohnten bevor sie das 15. Altersjahr erreichten, das relative Risiko etwa um den Faktor 2,5 erhöht (95% Konfidenzintervall 1,15 bis 5,69). Dieses erhöhte Risiko war hauptsächlich auf die Exposition vor dem 10. Altersjahr zurückzuführen, es basiert jedoch auf nur sieben exponierten und 42 nicht exponierten Melanom-Fällen. Die Gesamtanalyse deutet nicht auf einen Zusammenhang zwischen häuslicher NF-MF-Exposition und Hautkrebs hin. Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass eine NF-MF-Exposition in der Kindheit in ganz seltenen Fällen die Entwicklung eines Melanoms im späteren Leben begünstigen könnte. Die gleiche Schlussfolgerung wurde in derselben Kohorte auch in Bezug auf Leukämien und Hirntumoren gemacht: insgesamt wurde auch dort kein Zusammenhang beobachtet, jedoch in einer Subgruppenanalyse ein signifikant erhöhtes Risiko von akuter lymphatischer Leukämie basierend auf vier exponierten Fällen in der Kindheit (Khan et al. 2021b).
Der Studienansatz ist innovativ, da er keinen Kontakt mit den Studienteilnehmenden erforderte und somit kein Selektionsbias auftreten kann. Eine Stärke der Studie ist zudem die Expositionsabschätzung, da gut belegt ist, dass die NF-MF-Exposition in Wohnungen in der Nähe von Transformatoren deutlich erhöht ist. In der Analyse wurden nur wenige Störfaktoren berücksichtigt. Da für Bewohner im gleichen Haus systematische Unterschiede in Bezug auf die Wohnlage und die Lage des Transformatorraums unwahrscheinlich sind, wird aber mit diesem Studiendesign implizit für viele mögliche Störfaktoren kontrolliert. Der kritischste Störfaktor ist die UV-Belastung, und es lässt sich nicht völlig ausschließen, dass Kinder, die im Erdgeschoss wohnen und sich somit eher in der Nähe eines Transformators aufhalten, sich auch eher im Freien aufhalten. In einer Sensitivitätsanalyse, die sich auf Studienteilnehmende im Erdgeschoss und im ersten Stock beschränkte, wurden jedoch keine Hinweise auf einen derartigen Störfaktor gefunden. Die wichtigste Einschränkung der Studie ist die kleine Stichprobe von Teilnehmenden, die während ihrer Kindheit exponiert waren, so dass für diese Auswertung eine Bestätigung durch zusätzliche Studien erforderlich ist.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

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