Karl Richter zur "aktuellen mobilfunkpolitischen Situation" (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Mittwoch, 18.01.2017, 22:15 (vor 2616 Tagen)

Karl Richter, Gründer und Schreibmaschine der sogenannten Kompetenzinitiative, hat sich zum neuen Jahr berufen gesehen, zur "aktuellen mobilfunkpolitischen Situation", deren Vorhandensein an sich schon eine große Überraschung ist, eine Stellungnahme abzugeben. Herausgekommen ist ein PDF mit acht Seiten, das sich ungefähr so spannend liest wie das Telefonbuch von Ramersdorf. Die Ursache dafür ist schnell gesagt: Richter ist ein betagter ehemaliger Literaturprofessor, der in der Mobilfunkdebatte ohne Eigenkompetenz auskommt, und sich deshalb zwangsläufig fremder Expertise bedienen muss. Dies wäre nicht schlimm, würde der alte Herr bei der Auswahl seiner Quellen beide Augen öffnen, nicht kalten Kaffee als frischen servieren und nicht aus zutreffenden Fakten, mangels Hintergrundwissen, falsche Zusammenhänge konstruieren. Anhand des Links oben kann jeder selber prüfen, ob er meine Wertung des Richter-Pamphlets teilen kann oder nicht. Für einen von Richter konstruierten falschen Zusammenhang mag folgendes Beispiel herhalten. Es hat zwar nur wenige Zeilen, zeigt aber schön plastisch, wie der Goethe-Kenner Zusammenhänge einer DNS-Doppelhelix gleich verdreht:

Und wenn z. B. der Schweizer Bundesrat 2015 festgestellt hat, die Beeinflussung der Hirnströme durch elektromagnetische Felder sei „ausreichend wissenschaftlich nachgewiesen“: lässt nicht allein schon das die Ausrüstung von Klassen mit WLAN als gesundheitspolitisches Abenteuer einer deutschen Regierung erscheinen?

Richter bauscht gerne auf, um seinen Verlautbarungen mehr Gewicht zu geben. Hat er die Wahl, greift er immer zu dem, was er für "Trumpf" hält, im konkreten Fall spielt er nicht die Karte "Wissenschaftler" aus, sondern greift zu "Bundesrat". Der Schweizer Bundesrat ist die 7-köpfige Regierung der Schweiz. Doch selbstverständlich hat diese 2015 nichts über die "Beeinflussung der Hirnströme" festgestellt, Politiker regieren, sie forschen nicht. Die Quelle, auf die Richter ordentlich verlinkt, führt indes zu einem Bericht des Bundesrates aus dem Jahr 2015. Darin heißt es auf Seite 4 tatsächlich:

Nach wissenschaftlichen Kriterien ausreichend nachgewiesen ist eine Beeinflussung der Hirnströme.

Im selben Absatz steht übrigens zuvor noch etwas anderes, was Richter wohlweislich nicht erwähnt:

Der einzige für den Menschen schädliche Effekt von hochfrequenter Strahlung, der wissenschaftlich zweifelsfrei nachgewiesen ist, ist die Erwärmung des Körpergewebes infolge der Absorption der Strahlung.

Diese relativierende Einschränkung ist zwar beruhigend, ändert aber nichts an der Feststellung: Der Bericht des Bundesrates ist nur eine Sekundärquelle. Tatsächlich geforscht haben ganz andere. Dies waren, große Überraschung, im konkreten Fall sieben eidgenössische Wissenschaftler vom Fach. Im Auftrag des schweizerischen Bafu (Bundesamt für Umwelt) verfassten sie 2014 die Primärquelle in Gestalt einer Beurteilung der Evidenz für biologische Effekte schwacher Hochfrequenzstrahlung (PDF, 53 Seiten). Dort lässt sich in Abschnitt 6.1 detailliert nachlesen, wie die Experten der Schokoladenrepublik zu ihrer Einschätzung kamen. Hier nur die zusammenfassende Schlussbemerkung:

Insgesamt handelte es sich um kleine Veränderungen der EEG-Aktivität, die sich nicht auf die kognitive Leistungsfähigkeit oder die Schlafqualität auswirkten (Perentos et al. 2013). Daher ist unklar, ob die Veränderungen eine Bedeutung für die Gesundheit haben. Die geringe Expositionsstärke unterhalb der thermischen Schwelle, und die Relevanz der Modulierung legen jedoch nahe, dass es sich um nicht-thermische Effekte der Mobilfunkstrahlung handelt, die mit den gängigen Wirkungsmodellen nicht erklärt werden können. Die Qualität der Studien ist gut, und Störfaktoren sind bei diesen experimentellen Studien unwahrscheinlich. Die Befunde konnten von unabhängigen Forschungsgruppen beobachtet werden, so dass die Evidenz für Effekte der Mobiltelefonexposition als ausreichend klassiert wird, auch wenn noch nicht alle Fragen geklärt sind.

Das liest sich schon einmal merklich weniger dramatisch als bei Richter. Wie abwegig die Anklage des Literaten gegen W-Lan in Klassenzimmern ist, macht jedoch erst eine andere Textpassage der Primärquelle deutlich:

Die Expositionsbedingungen entsprechen in den meisten Studien einer typischen Belastung, wie sie bei einem 30- bis 45-minütigen Handytelefonat entsteht. Die maximal auftretenden SAR-Werte lagen meistens bei 2 W/kg oder darunter.

Richter verwurstet Studienresultate, die für direkte Handyeinwirkung am Kopf gelten (SAR maximal 2 W/kg) mit erheblich schwächerer W-Lan-Einwirkung. Wie schwach, das zeigt Abb. 1 in der Primärquelle: Ein W-Lan-Endgerät bewirkt eine durchschnittliche SAR von ungefähr 0,005 W/kg, ein W-Lan-Access-Point kommt im Mittel auf etwa 0,00001 W/kg. Bei diesen Werten ist unter Garantie kein Hirn in Gefahr. Richter warnt sinngemäß vor Handgranaten, die sich bei näherem Hinsehen als Knallerbsen herausstellen! Und der Gründer der sogenannten Kompetenzinitiative hätte dies alles auch selbst recherchieren können, läge ihm schillernder Populismus nicht so viel näher als die schmucklose Wahrheit.

Abschließend bekommt Richter auch noch vom EMF-Portal die rote Karte gezeigt. Diese "WHO-Referenzdatenbank" ist die weltweit wichtigste EMF-Studiensammlung, auf die auch Laien zugreifen können. Und sie hat sogar eine Übersicht zum Forschungsschwerpunkt EEG/Hirnaktivität. Dort werden auch die Bedenken der Schweizer erwähnt, mit Blick über das Matterhorn hinaus heißt es in der Schlussbemerkung jedoch ganz unaufgeregt:

Als Fazit kann gezogen werden, dass internationale wie nationale Expertengremien höchstens leichte Wirkungen auf die Hirnaktivität durch Mobilfunk-relevante hochfrequente elektromagnetische Felder als möglich erachten, dabei jedoch keine ausreichende Evidenz für gesundheitlich relevante Wirkungen sehen. Eine neue ausführliche Stellungnahme der WHO zu den Wirkungen von hochfrequenten elektromagnetischen Feldern wird für 2016 erwartet (Fact sheet № 193, 2014).

Fazit: Egal, was ein Mobilfunkgegner dir auch erzählen mag: Glaube ihm kein Wort, sondern prüfe alles an Originalquellen nach. Hast du keine Zeit dazu, ist ersatzweise das IZgMF eine gute Adresse, die Rückseiten der potemkinschen Dörfer kennenzulernen, die Mobilfunkgegner reihum errichten :waving:. Womit ich letztendlich Richters Frage "... lässt nicht allein schon das die Ausrüstung von Klassen mit WLAN als gesundheitspolitisches Abenteuer einer deutschen Regierung erscheinen?" mit einem klaren "Nein, ganz und gar nicht!" beantworten möchte.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

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Karl Richter zur "aktuellen mobilfunkpolitischen Situation"

KlaKla, Donnerstag, 19.01.2017, 12:38 (vor 2616 Tagen) @ H. Lamarr

Der 80 jährige Literaturprofessor tritt seit Jahren auf der Stelle. Keine neuen Erkenntnisse, nur ein Lebenszeichen.

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Meine Meinungsäußerung

Tags:
, EHS, Rentner, Selbstüberschätzung, Dogma

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