Komplexe biopsychosoziale Mechanismen bei Duftsensitiven (Forschung)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 02.06.2013, 01:46 (vor 3982 Tagen)

Ob Freude, Ekel oder Angst - die emotionale Komponente ist bei Geruchswahrnehmungen aufgrund der einzigartigen neuroanatomischen Verbindung der Riechbahnen mit dem limbischen System stark ausgeprägt (z.B. Birbaumer & Schmidt, 1996). So kann beispielsweise allein die Wahrnehmung von Eugenol, dem typischen Geruch einer Zahnarztpraxis, bei vielen Menschen Ängste und Erinnerungen an schlechte Erfahrungen auslösen (z.B. Robin, Alaoui-Ismaïli, Dittmar & Vernet-Maury, 1999). Dieses Wissen um die subtile Wirkungsweise der flüchtigen Aromen machen sich daher innovative Zahnärzte durch Verwendung geruchsneutraler Stoffe oder Duftaromen zunutze. Sogar Marketingexperten haben für sich den Einfluss von Gerüchen entdeckt, um mit Duftsäulen in Supermärkten und Geschäften eine bessere Verkaufsatmosphäre zu schaffen und das Kaufverhalten der Kunden zu beeinflussen (Schäfer, 2006; Wolter, 2008). Demnach finden Duftstoffe nicht nur in Dingen des täglichen Gebrauchs wie Wasch- und Reinigungsmitteln, Parfüms und Kosmetikprodukten ihren Einsatz, sondern auch in öffentlichen Räumen und klimatisierten Bürogebäuden.

Doch das Ziel, durch Beduftung positive Sinneseindrücke zu vermitteln, wird nicht bei allen Menschen erreicht. So berichtet das Umweltbundesamt über häufige Anfragen von Personen, die sich durch Duftstoffe in öffentlichen Gebäuden belästigt fühlen und gesundheitliche Beeinträchtigungen befürchten (Straff, 2005). Die Geruchswahrnehmungen werden dabei als Warnsignal für eine gesundheitliche Bedrohung interpretiert und erzeugen Ängste vor einer Schadstoffbelastung, Gefühle des Unwohlseins und körperliche Beschwerden, obwohl selbst bei toxischen Substanzen kein Rückschluss vom olfaktorischen Erleben auf deren gesundheitsschädliche Wirkungen möglich ist (Stroh, 2008). Dementsprechend zeigen sich bislang keine Hinweise auf eine unmittelbare pathologische Wirkung von Gerüchen, und selbst im Falle geruchserzeugender Schadstoffe liegt die Wahrnehmungsschwelle meistens bei solchen Konzentrationen, die noch keine gesundheitsschädlichen Konsequenzen aufweisen

Dennoch berichten manche Menschen über eine Empfindlichkeit gegenüber Gerüchen und den damit verbundenen, toxikologisch unbedenklichen Chemikalien. Besonders häufig anzutreffen ist eine solche Geruchssensitivität bei Personen mit ätiopathogenetisch unklaren umweltbezogenen Gesundheitsstörungen, wie der sogenannten Idiopathischen Umweltintoleranz (IEI) bzw. der Multiplen Chemischen Sensitivität (MCS; z.B. Eis, Dietel et al., 2005). Trotz eines mangelnden objektivierbaren kausalen Zusammenhangs mit toxikologischen Einflüssen leiden die betroffenen Personen nach der Exposition gegenüber niedrigdosierten, meist olfaktorisch vermittelten chemischen Stoffen unter einer Vielfalt heterogener körperlicher und psychischer Beschwerden und unter den zum Teil weitreichenden, einschränkenden Konsequenzen ihrer Bewältigungsversuche. Auch wenn der Kenntnisstand zu den Mechanismen der Entstehung und Aufrechterhaltung der IEI noch weit entfernt von einem gesicherten Wissen liegt, so wird doch in den letzten Jahren deutlich, dass rein monokausale organische Annahmen dem Krankheitsgeschehen nicht gerecht werden. Bereits bei der alltäglichen, nicht pathologischen olfaktorischen und interozeptiven Wahrnehmung spielen psychologische Faktoren eine zentrale Rolle. So ist ebenfalls bei den umweltbezogenen Gesundheitsstörungen von komplexen biopsychosozialen Mechanismen auszugehen, die bereits in modernen Konzeptualisierungen somatoformer Störungen Eingang gefunden haben (z.B. Rief & Barsky, 2005). Demnach wird das Symptomerleben als Resultat eines komplexen Informationsverarbeitungsprozesses aufgefasst, bei dem selektive Aufmerk samkeitsprozesse, das Ausmaß des vorhandenen psychophysiologischen Arousals sowie kognitive Schemata für die Interpretation körperlicher Empfindungen bedeutsame Komponenten darstellen.

Unter der Annahme einer multifaktoriellen Verursachung der Beschwerden stehen in der vorliegenden Arbeit (PDF, 249 Seiten, deutsch) die Auswirkungen dieser psychologischen Faktoren auf die Wahrnehmung körperlicher Symptome bei Personen im Vordergrund, die ein erhöhtes Risiko zur Entwicklung einer IEI aufweisen. In einer experimentellen Anordnung soll der Einfluss der Aufmerksamkeitslenkung, der kognitiven Schemata sowie des physiologischen Erregungsniveaus auf die berichteten Beschwerden bei geruchssensitiven Probanden untersucht werden.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
MCS, Idiopathie, Somatoforme Störung, Umweltmedizin, IEI

Verstärkte Wahrnehmung von Symptomen

H. Lamarr @, München, Sonntag, 04.08.2013, 22:22 (vor 3918 Tagen) @ H. Lamarr

Aus dem Diskussionsabschnitt in der Arbeit:

"Die Hypothese, dass geruchsempfindliche Probanden generell zu einer verstärkten Wahrnehmung von Symptomen neigen, konnte in der vorliegenden Studie zwar nicht uneingeschränkt, aber weitestgehend bestätigt werden. Zu den ersten beiden Messzeitpunkten gaben die geruchsempfindlichen Probanden signifikant stärkere Angst-, vegetative sowie kardiovaskuläre Symptome im Vergleich zur Kontrollgruppe an. Im weiteren Verlauf der Untersuchung konnte dieser Gruppenunterschied zwar graphisch beobachtet werden, er erreichte jedoch nicht statistische Signifikanz."

Kommentar: Diese verstärkte Symptomwahrnehmung zeigt sich auch in nahezu allen Erlebnisschilderungen von Elektrosensiblen. Im Vergleich zu den Eigenbeobachtungsfertigkeiten einiger öffentlich wahrgenommener EHS sind die Fremdbeobachtungsbemühungen der NSA geradezu Kleckerkram.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

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