Eine Krankheit, bizarrer als "Elektrosensibilität", aber real (Elektrosensibilität)
Aus Sicht der anerkannten Wissenschaft ist "Elektrosensibilität" eine psychische Störung. Betroffene und Elektrosmogprofiteure halten diese Sicht aus naheliegenden Gründen für unzutreffend. Andererseits lassen Fallschilderungen überzeugter "Elektrosensibler" jedem verständigen Menschen die Haare zu Berge stehen. Aber: Man mag Pferde vor Apotheken kotzen gesehen haben, doch manchmal erweisen sich vermeintlich offensichtliche Märchen als wahr. Hier die Geschichte eines solchen Falls.
In Belgien wird 2019 ein 40-jähriger Autofahrer aus Brügge erwischt und wegen Trunkenheit am Steuer verurteilt. Das kann passieren und ist nicht der Rede wert. Doch 2022 wurde der Mann gleich zweimal erneut betrunken am Steuer ertappt, mal mit 1,63 Promille, mal mit 2,09 Promille. Vor Gericht beantragte die Staatsanwaltschaft, dem Wiederholungstäter auf Lebenszeit den Führerschein zu entziehen. Doch die Richter folgten diesem Antrag nicht. Im Gegenteil, sie sprachen den Mann frei (Quelle).
Gärwerk statt Klärwerk
Was war da los, sympathisierten die Richter, womöglich selbst Alkoholiker und deshalb ungewöhnlich verständnisvoll, mit dem Sünder? Nein, selbstverständlich nicht. Weil aber der Mann glaubhaft seine Unschuld beteuerte und von einer seltsamen Krankheit sprach, beauftragte das Gericht einen Rechtsmediziner, die Angaben des Angeklagten zu prüfen. Und tatsächlich kam der Gutachter zu dem Ergebnis, dass der vermeintliche Trunkenbold höchstwahrscheinlich unter dem sehr seltenen Eigenbrauersyndrom leidet. Was nicht bedeutet, dass der Mann sein Bier zu Hause im Keller selbst braut, sondern dass sein Körper wegen einer Stoffwechselstörung im Darm durch Gärung Kohlenhydrate in beträchtlichem Ausmaß in Alkohol umwandelt.
Wer von dieser Krankheit nie etwas gehört hat, wird den Beteuerungen des Autofahrers mutmaßlich noch weniger Glauben schenken als den Beteuerungen von "Elektrosensiblen", sie würden unter schwacher HF-EMF-Exposition körperliche Symptome erleiden. Doch es gibt einen wesentlichen Unterschied: Bislang konnte die Wissenschaft trotz großer Anstrengungen kein widerspruchsfreies Wirkmodell für einen Kausalzusammenhang zwischen "Elektrosensibilität" und den Symptomen der Betroffenen finden. Das Eigenbrauersyndrom hingegen ist für sie kein Buch mehr mit sieben Siegeln, wenngleich die genauen Ursachen noch immer nicht restlos erforscht sein sollen.
Frühe Fälle
Mehrere frühe Fälle wurden in den 1950er bis 1970er Jahren aus Japan gemeldet. Einer der ersten bekannten Fälle ereignete sich 1948, als ein fünfjähriger Junge an einem Magenriss starb, der durch eine Schwellung des Magen-Darm-Trakts verursacht worden war. Bei der Obduktion wurden Gas und Flüssigkeit im Magen und in der Bauchhöhle festgestellt, die nach Alkohol rochen. Damals stellte der Untersucher die Hypothese auf, dass diese Anomalie das Ergebnis der Fermentation von Süßkartoffeln durch eine gramnegative Darmflora war; eine Ethanolkonzentration im Blut wurde damals nicht festgestellt. Ein weiterer früher Fall betraf eine 24-jährige Frau im Jahr 1976, die in Übereinstimmung mit anderen Berichten nach dem Verzehr von Kohlenhydraten in einen Rausch geriet. Sie erhielt ein Antimykotikum, während sie ihre Kohlenhydratzufuhr einschränkte, was zum Abklingen ihrer Symptome führte. (Quelle)
Hintergrund
Woher kommt "man hat schon Pferde kotzen sehen"?
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –
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