WHO: Neue Review stürzt EHS in Identitätskrise (Elektrosensibilität)
Im Auftrag der WHO ist eine 9-köpfige wissenschaftliche Arbeitsgruppe um Korrespondenzautor Martin Röösli mit einer systematischen Review der Frage nachgegangen, ob zwischen HF-EMF-Exposition und selbstberichteten Symptomen bei Menschen ein Kausalzusammenhang erkennbar ist. Die jetzt veröffentlichten Ergebnisse sind keine Überraschung, denn sie deuten darauf hin, dass akute HF-EMF unterhalb der gesetzlichen Grenzwerte keine Symptome verursachen und entsprechende Beschwerden im Alltag mit der gefühlten und nicht mit der tatsächlichen EMF-Exposition zusammenhängen.
Online veröffentlicht wurde die Review "The effects of radiofrequency electromagnetic fields exposure on human self-reported symptoms: A systematic review of human experimental studies" (Volltext) am 14. Mai 2024 in dem Journal Environment International, das Protokoll der Review liegt seit Januar 2022 vor. Im Auftrag der WHO untersucht die Studie systematisch die Auswirkungen einer HF-EMF-Exposition auf selbstberichtete unspezifische Symptome bei Testpersonen. Dabei wurde u.a. die Genauigkeit der Wahrnehmung des Vorhandenseins oder Nichtvorhandenseins einer Exposition bewertet, um zu klären, ob selbst deklarierte "Elektrosensible" empfindlicher sind als Kontrollgruppen.
Hier nun einige Auszüge aus dem 19-seitigen Paper, die allerdings nur einen Bruchteil der gebotenen Informationsfülle widerspiegeln. Will heißen: Wer sich gründlich mit der Review auseinandersetzen möchte, z.B. mit den anspruchsvollen Analysen, kommt um die Lektüre des Originals nicht umhin.
Einfluss auf EHS-Bewertung der WHO
Den Autoren der Review zufolge ist ihr Paper ein echtes Novum, denn es gäbe zu dieser Zielsetzung keine andere aktuelle Zusammenfassung der in experimentellen Studien gewonnenen Forschungsergebnisse. Ihre Review werde deshalb Einfluss auf künftige Empfehlungen der WHO haben. Mutmaßlich ist damit gemeint, dass sich die Ergebnisse der Arbeit in der Neuausgabe der seit langem erwarteten WHO-Monografie "Environmental Health Criteria" (EHC) über elektromagnetische Felder (EMF) wiederfinden werden. Mit EHCs dokumentiert die WHO den Stand des Wissens und ihre Haltung zu umweltbezogenen Gesundheitskriterien. Die bislang jüngste EHC-Ausgabe der WHO zu EMF (300 Hz bis 300 GHz) erschien vor 31 Jahren (EHC 137 von 1993).
Damit kein Missverständnis aufkommt: Im Gegensatz zu der bereits im Januar 2024 veröffentlichten Review der gleichen Arbeitsgruppe mit ähnlicher Zielsetzung hat die jetzt im Mai veröffentlichte Studie andere Endpunkte, zielt exklusiv auf die Allgemeinbevölkerung und wertet nicht Beobachtungsstudien aus, sondern Experimentalstudien.
Methodik der systematischen Review
Was die Teilnehmer der Primärstudien anbelangt, zeigt sich die Review offen. Zugelassen wurden Menschen mit und ohne IEI-EMF (Elektrosensibilität) jeden Alters, Geschlechts, Berufs und sozioökonomischen Status. Für die Exposition wurden magnetische oder elektromagnetische Felder im Frequenzbereich von 100 kHz bis 300 GHz zugelassen, einschließlich Nah- und Fernfeldexpositionen. Weiter schlossen die Autoren Studien in allen Sprachen ein, bei denen zumindest die Teilnehmer oder die Forscher gegenüber der Expositionsbedingung verblindet waren. In die Gesamtschätzungen flossen jedoch nur Studien ein, bei denen die Teilnehmer gegenüber der Expositionssituation verblindet waren. Grund: Ein solches Design reduziert Nocebo-Effekte. Was die Autoren sonst noch unternommen haben, um das Verzerrungsrisiko ihrer Review so klein wie möglich zu halten, ist in der Publikation detailliert beschrieben. Am Ende blieben von anfänglich 7'439 Suchtreffern in diversen Datenbanken für wissenschaftliche Literatur 41 Primärstudien mit insgesamt 2'874 Teilnehmern übrig, die sämtliche Einschlusskriterien erfüllten und damit für die Review und deren Metaanalysen tauglich waren.
Nahezu alle eingeschlossenen Primärstudien hatten ein Crossover-Design (Überkreuz). Solche Studien vergleichen die Wirkung von zwei Einwirkgrößen miteinander, indem man die gleichen Versuchspersonen zeitlich versetzt in zwei Studienphasen den beiden Einwirkgrößen A und B aussetzt (A: EMF, B: kein EMF). Dazu werden die Probanden randomisiert in zwei Gruppen eingeteilt. Im ersten Studienabschnitt sind die Probanden der 1. Gruppe zunächst Einwirkgröße A ausgesetzt, die Probanden der 2. Gruppe Einwirkgröße B. Nach einer ausreichend langen Erholungsphase wird zum zweiten Studienabschnitt gewechselt: Die 1. Gruppe muss nun Einwirkgröße B aushalten, die 2. Gruppe Einwirkgröße A (in Anlehnung an DocCheck Flexikon).
Über Expositionsstärke, Finanzierung, Teilnehmerzahl, Endpunkte und mehr gibt die Publikation schön übersichtlich in Tabelle 1 detailliert Auskunft. Tabelle 2 zeigt dort die Zusammenfassung der Ergebnisse für die primären Ergebnisse der Review: Die Autoren haben die Wirkungen in den folgenden Kombinationen von Teilnehmern, Exposition und Ergebnissen bewertet:
► Allgemeinbevölkerung und IEI-EMF-Personen
► Nah- und Fernfeldexposition
► Symptome Kopfschmerzen, Schlafstörungen und kombinierte Symptome
Dies ergäbe 2x2x3=12 vergleichbare Expositionsfälle, die Tabelle zeigt jedoch nur zehn. Der Grund dafür ist kurios: Die Autoren konnten keine Studien zu den Auswirkungen einer Exposition auf den Schlaf von IEI-EMF-Personen finden. Daher fehlen in der Tabelle bei den IEI-EMF-Personen die beiden Einträge für Schlafstörungen infolge Nah- und Fernfeldexposition.
EMF-Wahrnehmung
Die Sensitivität und Spezifität für die Vermutung des Vorhandenseins oder Nichtvorhandenseins einer Exposition haben die Autoren nach Art der Teilnehmer dargestellt. In der Allgemeinbevölkerung betrug die Sensitivität 0,30 und die Spezifität 0,72. In der IEI-EMF-Population lag die Sensitivität bei 0,67 und die Spezifität bei 0,37. Sensitivität und Spezifität unterschieden sich signifikant zwischen IEI-EMF und Allgemeinbevölkerung, was darauf hindeutet, dass IEI-EMF-Personen mit größerer Wahrscheinlichkeit das Vorhandensein einer Exposition angaben, wenn tatsächlich eine Exposition vorlag, aber mit geringerer Wahrscheinlichkeit das Nichtvorhandensein einer Exposition, wenn keine Exposition vorlag. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass IEI-EMF-Personen Routine darin haben, selbst anzugeben, exponiert zu sein. Insgesamt gab es keinen Unterschied in der Beurteilungsgenauigkeit zwischen den beiden Gruppen.
Maskieren viele "unechte" EHS wenige "echte" EHS?
Die Auswahl der IEI-EMF-Personen basierte in allen Primärstudien auf Selbstzuschreibung, da es keine objektiven Biomarker für eine spezifische EMF-Anfälligkeit gibt. Von Dariusz Leszczynski wurde 2022 argumentiert, dass die Gruppe der selbst zugeschriebenen IEI-EMF-Personen eine heterogene Gruppe ist und nur eine kleine Untergruppe tatsächlich besonders anfällig für EMF sein könnte. Daher kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein tatsächlicher EMF-Effekt in der Gruppe durch unempfindliche Personen maskiert wird. Daher wurde vorgeschlagen, individualisierte Tests durchzuführen, bei denen dieselbe Person mehrmals entweder Schein- oder realen EMF-Bedingungen ausgesetzt ist, um genügend Daten für aussagekräftige Statistiken zu erhalten. Einige solcher Studien wurden den Autoren zufolge durchgeführt, doch keine fand Hinweise darauf, dass es tatsächlich besonders empfindliche Personen in der Gruppe der IEI-EMF gibt, gemessen an der Symptomberichterstattung und/oder der Feldwahrnehmung.
Auswirkungen auf die Praxis
Die Autoren der Review sehen sich nicht im Besitz der absoluten Wahrheit über das Phantom "Elektrosensibilität" und drücken sich deshalb vorsichtig aus. So konnten sie keine Beweise finden, die einen Zusammenhang belegen könnten zwischen der Exposition gegenüber HF-EMF unterhalb der gesetzlichen Empfehlungen und einer Vielzahl von kurzfristig einsetzenden Symptomen. Ebenso wenig konnten Beweise gefunden werden, die auf die Fähigkeit von Personen hinweisen könnten, eine Exposition gegenüber HF-EMF zu erkennen. Dies gilt sowohl für die Allgemeinbevölkerung als auch für IEI-EMF-Personen und wird von den Autoren mit ihren Hauptmetaanalysen als auch mit ihren Expositions-Wirkungs-Analysen und Sensitivitätsanalysen belegt. Diese Befunde könnten zwar andere denkbare Langzeitschäden von HF-EMF nicht ausschließen, sie deuteten gleichwohl darauf hin, dass das Vorhandensein oder Fehlen allgemeiner Symptome keine guten klinischen Vorhersager (Prädiktoren) für das Auftreten oder die Entwicklung von IEI-EMF sind. Denn sie könnten auch darauf hindeuten, dass die Symptome von akuten Auswirkungen von HF-EMF unterhalb der Grenzwerte im alltäglichen Umfeld besser mit der Nocebo- oder der Attributionshypothese zu erklären sind.
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –
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- WHO: Neue Review stürzt EHS in Identitätskrise -
H. Lamarr,
16.05.2024, 12:24
- WHO: Neue Review stürzt EHS in Identitätskrise - H. Lamarr, 20.05.2024, 22:28