Angst als Ursache körperlicher Beschwerden (Elektrosensibilität)

H. Lamarr @, München, Freitag, 02.02.2024, 21:58 (vor 293 Tagen)

Keine Macht auf Erden kann restlos überzeugte "Elektrosensible" von ihrem Irrweg abbringen. Aufgeschlosseneren Betroffenen ist noch zu helfen, vorausgesetzt der behandelnde Arzt kann mit den schwierig zu diagnostizierenden Patienten etwas anfangen. Die Gesellschaft für Hygiene, Umweltmedizin und Präventivmedizin (GHUP) am Institut für Umweltmedizin und Krankenhaushygiene des
Universitätsklinikums Freiburg will Ärzte dafür mit einem appetitlichen Informationsangebot qualifizieren.


Das Informationsangebot der GHUP lässt sich im Internet sichten. Momentan besteht es aus neun nicht allzu umfangreichen PDFs, die das Wesentliche aus unterschiedlichen Blickwinkeln ansprechen. So ein Informationshappen lässt sich in einer Pause gut konsumieren. Das PDF "Angst als mögliche Ursache körperlicher Beschwerden" will z.B. praxisnahe Tipps für den Umgang mit noch zugänglichen EHS-Patienten aus Sicht der Psychiatrie geben. Hier ein Auszug:

Angst kann zu einer Erkrankung werden. Rund 14-29 Prozent der Menschen entwickeln im Laufe ihres Lebens eine pathologische Angst, die zu massiven Beeinträchtigungen des Lebens führen kann. [1] Diese Angst kann chronisch werden, sie ist der jeweiligen Situation unangemessen und kann durch den Betroffenen selbst nicht ausreichend gesteuert oder bewältigt werden. Eine normale Angst im Alltag, oder nennen wir es Unsicherheit, hilft uns gesund und sicher mit der Umwelt in Kontakt zu treten. Eine krankhafte Angst hat diesen Schutzcharakter verloren. Es zeigen sich u.a. körperliche Symptome wie Schwitzen, allgemeine Kreislaufprobleme und Schwindel, Schwierigkeiten mit der Atmung und mit dem Sprechen. Psychisch beschreiben Patienten den Verlust der Selbststeuerungsfähigkeit, Konzentrationsprobleme, dissoziatives Erleben und allgemein ein verändertes Ich.

Eine von vielen Ursachen für die Entstehung von Ängsten liegt darin, dass wir heutzutage in unserem Alltag andauernd mit vielen Informationen konfrontiert sind und durch Medien, Meinungen aus der Gesellschaft, Information aus der ganzen Welt etc. beeinflusst werden. Dies kann Unruhe erzeugen. Nimmt man nun auch Symptome wahr, sucht man nach ihrer Ursache. Oft sind diese Gründe nicht zugänglich oder man möchte sie nicht kennen und verdrängt sie. Daher wird bewusst oder unbewusst nach etwas gesucht, das mit den Beschwerden zusammenhängen könnte. Diese Angst kann sich unter anderem gegen Mobilfunk richten, den viele besorgte Personen für den Hauptverursacher von „Elektrosmog“ halten. Mobilfunkmasten wirken auf manche Menschen bedrohlich. Das ist bedingt einerseits durch die Optik, andererseits ist es bei manchen die Sorge vor einer Technologie, die sie nicht verstehen. Man fühlt sich ihr ausgeliefert und machtlos. Das Thema ist in den letzten Jahren auch deshalb so groß geworden, da sich die vermeintliche Gefahr in jeder Hosentasche befindet, allzeit omnipräsent ist und unser ganzes Handeln in Beruf und Freizeit durchdringt und verändert. [...]
Das bedeutet, dass nicht elektromagnetische Felder (EMF) selbst die Gesundheit elektrosensibler Menschen beeinträchtigen, sondern die Sorge vor möglichen Auswirkungen der Strahlung lösen Beschwerden aus. [2]

[1] Kessler et al., 2005; Somers et al., 2006
[2] Klaps A., I. Ponocny, R. Winker, M. Kundi, F. Auersperg, A. Barth: Mobile phone base stations and well-being – A meta-analysis. Science of the Total Environment, 2015

Quelle [2] ist bemerkenswert, weil a) unter den Autoren mit Michael Kundi ein mobilfunkkritisch eingestellter Wissenschaftler aus Österreich ist und b) die Autoren der Meta-Studie nach Auswertung von 17 EHS-Studien zu der Erkenntnis kommen:

Doppelblindstudien fanden keine Auswirkungen auf das menschliche Wohlbefinden. Im Gegensatz dazu zeigten Feld- oder unverblindete Studien eindeutig, dass es sehr wohl Wirkungen gab. Dies ist ein Hinweis darauf, dass zumindest einige Effekte auf einem Nocebo-Effekt beruhen. Ob eine Beeinflussung durch elektromagnetische Felder von Mobilfunk-Basisstationen vorliegt, hängt also davon ab, ob der Mensch über das Vorhandensein der mutmaßlichen Ursache Bescheid weiß. Insgesamt zeigen die Ergebnisse der Meta-Analyse, dass die Auswirkungen von Mobilfunk-Basisstationen eher unwahrscheinlich sind. Nocebo-Effekte kommen jedoch vor.

Ich kann mir gut vorstellen, Betroffene, die noch zweifelnd am Beginn einer EHS-Laufbahn stehen, lassen sich von einem verständnisvollen Arzt mit obiger Argumentation davon überzeugen, dass Elektrosmog von Mobilfunkbasisstationen doch nicht für ihre unspezifischen Symptome verantwortlich seien kann. Andererseits kann ich mir genauso gut vorstellen, dass derselbe Arzt mit derselben Argumentation bei der hier hinlänglich bekannten Eva W. aus O. in M. auf Granit beißen wird und sie keinen Millimeter von ihrer Überzeugung abbringt, ein 110 Meter von ihrem Haus entfernter UMTS-Funkmast sei der Verursacher ihrer peinigenden Symptome.

Was macht den Unterschied? Eva W. hat über viele Jahre hinweg ihr Erklärungsmodell durch intensives Googeln und "Eigenforschung" soweit perfektioniert, dass sie gegen alle Versuche immun ist, sie von ihrer Überzeugung abzubringen. Ein entscheidender Faktor ist mMn auch das Ansehen, das Frau W. in ihren Kreisen (Echokammern) genießt. Sie hat es sich mit einigen Medienartikeln über ihr Leiden und mit zahllosen öffentlichen Meinungsbekundungen erworben. Selbst wenn sie wollte, sie kann nicht mehr zurück, ohne dieses wohltuende Ansehen zu verlieren. Vollzieht sie ihren Sinneswandel nicht insgeheim, sondern macht diesen öffentlich, wird sie von ihren Ex-Mitstreitern womöglich als Blenderin, Verräterin oder Versagerin beschimpft und läuft Gefahr, in die Einsamkeit einer von allen Seiten unverstandenen Person abzustürzen. Dann doch lieber nicht von der Fahne gehen und das kleinere Übel EHS bis ans Lebensende ertragen.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

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