Neues von Berenis (34): September 2023 (Forschung)

H. Lamarr @, München, Montag, 11.09.2023, 00:40 (vor 441 Tagen)

Im Zeitraum von Mitte Oktober 2022 bis Mitte Januar 2023 wurden 122 neue Publikationen identifiziert, von denen sechs von Berenis vertieft diskutiert wurden. Vier davon sind gemäß den Auswahlkriterien besonders relevant. Sie wurden somit zur Bewertung ausgewählt und werden im Folgenden gekürzt vorgestellt. Ungekürzt gibt es den aktuellen Berenis-Newsletter hier.

Experimentelle Tier- und Zellstudien

Stress-Antworten und Hormesis bei Ratten durch NF-MF(-Magnetfeld)-Exposition (Klimek et al. 2022)
In der experimentellen Tierstudie von Klimek und Kollegen (2022) wurde der Frage nachgegangen, ob es in Ratten Hinweise auf Stress und damit verbundene Stress-Antworten nach mehrfacher Befeldung (50 Hz, 1 mT und 7 mT) gibt. Die Autoren exponierten drei Monate alte männliche Wistar-Ratten dreimal in Abständen von drei Wochen. Jeweils am Ende der Expositionsperioden und dem anschliessenden Stresstest wurden Stresshormone und deren Rezeptoren gemessen, sowie auch das Explorations- und Angstverhalten der Tiere. In dieser Studie stand insbesondere die Stressantwort der Hypophysen-Hypothalamus-Nebennierenachse im Zentrum der Untersuchungen. Hier wird die Produktion von Kortikosteroiden in der Nebenniere beeinflusst durch ein Signal aus der Hypophyse.

[...] Die Untersuchungen zeigten, dass das NF-MF die Empfindlichkeit, Stressantworten auszulösen in Abhängigkeit von der Feldstärke/Flussdichte verändert. Während die Ergebnisse bei 1 mT auf eine neuroprotektive Antwort und somit auf therapeutische Effekte und Anxiolyse (verminderte Angst) hinweisen, wurde bei 7 mT das Gegenteil beobachtet. Dies entspricht dem Prinzip der Hormesis (griech.: "Anregung, Anstoß", englisch: adaptive response), einem Phänomen und bereits von Paracelsus formulierten biologischen Effekt, dass geringe Dosen schädlicher oder giftiger Substanzen eine positive Wirkung auf den Organismus haben können.

Analog zur Hormesis zeigen die Ergebnisse, dass geringer Stress bei wiederholter Anwendung vor
weiteren Stressoren schützt, während stärkerer Stress das Gegenteil bewirkt. Dieser Effekt von NF-MF verschiedener Flussdichten wurde, nach einer Studie in Drosophila-Fliegen, nun zum ersten Mal bei Säugetieren gezeigt.

Einfluss von hochfrequenten elektromagnetischen Feldern mit WiFi-Signalen auf das Chromatin von Fruchtfliegen (Cappucci et al. 2022)
In dieser Studie wurde der Einfluss eines HF-EMF (2,436 GHz) auf den Aktivierungszustand und die Struktur des Chromatins (DNS und assoziierte strukturelle Proteine des Zellkerns) in Larven und adulten Fruchtfliegen (Drosophila melanogaster) untersucht. In einer geeigneten Expositionsvorrichtung (TEM-Zelle, gekoppelt an einen kommerziellen WiFi-Router) wurden die Fruchtfliegen während ihrer ganzen Entwicklung bis ins Erwachsenenalter einem kontinuierlichen WiFi-Signal (durchschnittliches E-Feld von 1,35 V/m) ausgesetzt und mit Tieren in einer Kontrollzelle mit ca. 13-fach schwächeren Hintergrund-E-Feldern verglichen. Die Autoren berechneten einen SAR-Wert von 60,8 mW/kg für die exponierte Gruppe. In den Köpfen und Ovarien, aber nicht in den Hoden, von 10 Tage alten exponierten Tieren wurde eine erhöhte Expression (Genaktivität) von mobilen Genomsequenzen (Transposons) beobachtet. Solche Aktivierung von Transposons war schon für andere Zellstressoren wie beispielsweise Hitzeschock bekannt. Wie die Autoren in einem Kontrollexperiment mit Hitzeschock-Behandlung der Fliegen zeigten, ist die Zunahme der Expression von Transposons nach HF-EMF-Exposition aber auf einen anderen Mechanismus zurückzuführen. Die WiFi-Exposition führte zu einer Dekondensation des konstitutiven Heterochromatins (inaktives kondensiertes Chromatin), was sich in einer Abnahme von Biomarkern für inaktives Chromatin (HP1 und Histonmodifikationen) und einer Veränderung von Heterochromatin-abhängiger Geninaktivierung in einem genetischen Testmodell zeigte. In den exponierten Fliegenlarven wurden zudem Anzeichen von Genominstabilität und Chromatin-Dekondensation in sich teilenden Hirnzellen und eine moderate Zunahme von ROS-Bildung in verschiedenen Hirnregionen festgestellt. Im Vergleich zu scheinexponierten Kontrolltieren führte die WiFi-Exposition zu einem reduzierten Bewegungsverhalten von Larven und adulten Fliegen sowie einer verringerten Lichtvermeidung der Larven. Als letztes wurde der Einfluss des HF-EMF auf Tumormetastasenbildung in einem genetischen Modell untersucht und eine Zunahme der Metastasen festgestellt, was die Autoren mit dem Mutationspotential von Transposonaktivierung erklärten.

Die Beobachtungen dieser Studie sind insofern erwähnenswert, da es kaum vergleichbare Untersuchungen bezüglich der Wirkung von EMF auf Heterochromatin gibt. [...]

Epidemiologische Studien

Analyse des metabolischen Profils von Personen mit Fibromyalgie und elektromagnetischer Empfindlichkeit (Piras et al. 2022)
Das metabolische Profil («Metabolomics») von 31 Studienteilnehmenden (30 Frauen, 1 Mann) mit einer Diagnose von Fibromyalgie und selbstdeklarierter elektromagnetischer Empfindlichkeit (EHS) wurde mit 23 gesunden Teilnehmenden (21 Frauen, 2 Männer) verglichen. Die Metaboliten im Blutplasma wurden mit Gaschromatographie-Massenspektrometrie (GC-MS) bestimmt. Neunzehn Metaboliten, die an verschiedenen Stoffwechselwegen beteiligt sind, waren in den zwei Gruppen unterschiedlich. Die Stoffwechselwege betreffen den Energiestoffwechsel, metabolische Prozesse der Muskeln, Abwehr von oxidativem Stress und chronischen Schmerz. Vergleiche der beiden Gruppen mittels H-NMR Spektroskopie wurden bereits früher (Piras et al. 2020) beschrieben. Fibromyalgie wird als generalisiertes Weichteilrheuma definiert, dessen Ursache unbekannt ist. Die Diagnose erfolgt nach validierten Kriterien. Leitsymptom sind chronische Weichteilschmerzen, häufig begleitet von Müdigkeit, Schlafstörungen, kognitiven Beschwerden, Niedergeschlagenheit und Ängstlichkeit. Routinemässig durchgeführte Laboruntersuchungen und Bildgebung sind normal.

Fibromyalgie tritt gehäuft mit anderen funktionellen Erkrankungen auf, zum Beispiel mit Reizdarmsyndrom oder Migräne. EHS-Patientinnen und -Patienten leiden ebenfalls an verschiedenen medizinisch nicht erklärbaren Symptomen. Insofern gibt es Parallelen zwischen der Fibromyalgie und EHS. Interessant aber nicht überraschend und auch nicht neu ist, dass die komplexe Multi-Organ-Symptomatik mit Stoffwechselveränderungen einhergeht. Für die Autoren deuten die Ergebnisse auf eine mögliche metabolische Veränderung bei EHS hin. Diese Schlussfolgerung ist eine Überinterpretation, da Fibromyalgie und EHS gleichzeitig vorliegen, und eine Vergleichsgruppe mit Fibromyalgie ohne EHS fehlt. Die beschriebenen Veränderungen könnten auch durch andere Faktoren verursacht worden sein (z.B. Nahrungsaufnahme, Begleiterkrankungen).

Niederfrequente Magnetfeld-Exposition durch Hochspannungsleitungen in Slowenien und Krebsrisiko bei Kindern und Jugendlichen (Zagar et al. 2023)
Frühere epidemiologische Studien haben gezeigt, dass langfristige Exposition mit niederfrequenten Magnetfeldern, stärker als 0,3 μT, wie sie in Wohnungen in der Nähe von Hochspannungsleitungen auftreten kann, möglicherweise ein Risikofaktor für das Auftreten von Leukämie bei Kindern ist. Die Studie von Zagar et al. (2023) hatte einerseits zum Ziel, eine detaillierte landesweite Modellierung der NF-MF-Exposition durch Hochspannungsleitungen in Slowenien zu machen und andererseits zu untersuchen, ob eine Wohnlage in der Nähe von Hochspannungsleitungen einen Einfluss auf das Auftreten von Krebs im Allgemeinen, und insbesondere von Leukämie und Gehirntumoren bei Kindern und Jugendlichen hat. Hierzu wurden nationale Krebsregisterdaten über einen Zeitraum von zwölf Jahren herangezogen (2005-2016, Krebs in der Altersgruppe 0-14 Jahre, Leukämie in der Altersgruppe 0-19 Jahre, Gehirntumoren in der Altersgruppe 0-29 Jahre). Alle aufgetretenen Fälle wurden hinsichtlich der NF-MF-Exposition am Wohnort in fünf Expositionskategorien eingeteilt (niedrigste Kategorie: < 0,1 μT, höchste Kategorie: ≥0,4 μT, drei Zwischenkategorien im Bereich von 0,1 – 0,4 μT). In die Expositionskategorie unterhalb von 0,1 μT fielen 99,5 % der untersuchten Bevölkerung und insgesamt 516 Krebsfälle. Nur 0,5 % der Kinder und Jugendlichen in Slowenien wohnten an Orten, an denen die durchschnittliche NF-MF-Exposition 0,1 μT oder mehr betrug. Nur 0,09 % aller Kinder wohnten für wenigstens 1 Jahr in einer mit mehr als 0,4 μT belasteten Zone. In der Kategorie 0,1-0,2 μT trat ein Leukämie-Fall auf, und in der Kategorie 0,2-0,3 μT ein Gehirntumorfall. Keine Erkrankungen wurden oberhalb von 0,3 μT beobachtet. In ihrer Analyse verglich die Autorengruppe die aufgetretenen Fallzahlen mit den zu erwartenden Fallzahlen. Hierbei wurden keine signifikanten Unterschiede in Bezug auf das Krebsrisiko bei höher exponierten Kindern und Jugendlichen im Vergleich zu den übrigen Gleichaltrigen festgestellt.

Eine Stärke der Studie ist die gute Expositionsmodellierung mithilfe von hochaufgelösten Stromflussdaten der Stromversorger. Jedoch sind hausgemachte Quellen (Hausleitungen, elektrische Geräte) damit nicht erfasst. In der Analyse wurden keine Störgrössen (Confounder) berücksichtigt, jedoch sind in dieser Altersklasse auch keine relevanten Störgrössen bekannt. Die Studie demonstriert anschaulich die Schwierigkeiten bei der Erforschung dieser Fragestellung. Krebsfälle bei Kindern und Jugendlichen sind naturgemäss relativ selten und nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung ist am Wohnort hohen NF-MF ausgesetzt. Die statistische Aussagekraft einer einzelnen Studie wie dieser ist deshalb sehr einschränkt. Umgekehrt zeigt die Studie, dass auch bei einer angenommenen Verdoppelung des Krebsrisikos durch NF-MF die Anzahl zusätzlich zu erwartender Krebsfälle klein wäre, weil nur ein kleiner Teil der Bevölkerung Intensitäten oberhalb der Verdachtsschwelle ausgesetzt ist.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

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