Radioaktivität: Hirschtrüffel lassen Wildschweine lang strahlen (Forschung)
Die gute Nachricht: Die radioaktive Belastung von essbaren Wildpilzen hat sich seit dem Reaktorunfall von Tschernobyl 1986 in Deutschland halbiert, nur noch in Einzelfällen wird der zulässige EU-Grenzwert ums 7-fache überschritten. Die schlechte: Wildschweine aus Bayern können den EU-Grenzwert noch immer bis ums 25-fache überschreiten, Tendenz steigend. Wie kann das sein? Die Erklärung verblüfft.
Auch 37 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl können Wildpilze in Deutschland noch radioaktives Cäsium-137 enthalten, das bei dem Unfall freigesetzt wurde. In größerem Umfang sind Überschreitungen des Grenzwerts von 600 Becquerel pro Kilogramm Frischmasse allerdings nur noch in einigen Regionen Bayerns und Teilen Oberschwabens zu erwarten. Das lässt sich aus Zahlen des aktuellen Pilzberichts des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS) ableiten. Für den Bericht untersucht das BfS jährlich Wildpilze von ausgewählten Standorten.
Selbst in diesen höher kontaminierten Gebieten ist aber nicht jede Pilzart gleichermaßen betroffen. Bei den Messungen des BfS der vergangenen drei Jahre (2020-2022) brachten es Semmelstoppelpilze und Rotbraune Semmelstoppelpilze in Einzelfällen auf Spitzenwerte von über 4'000 Becquerel Cäsium-137 pro Kilogramm Frischmasse. Pilze im Handel müssen den Grenzwert für radioaktives Cäsium-137 einhalten. Wer selbst Pilze sammelt, ist nicht von diesem Grenzwert geschützt.
Eine erwachsene Person, die jede Woche eine Mahlzeit aus 200 Gramm Pilzen mit 2'000 Becquerel Cäsium-137 pro Kilogramm verzehrt, erhält pro Jahr eine zusätzliche Strahlendosis von 0,27 Millisievert. Das ist etwa so viel wie bei rund 20 Flügen von Frankfurt am Main nach Gran Canaria.
Warum aber sind in Bayern erlegte Wildschweine bis zu knapp 4-mal stärker verstrahlt als die am stärksten belasteten für Menschen essbaren Wildpilze?
Rückverfolgung von Cäsium-137 zum Ursprung
Eine Studiengruppe um den Radioökologen Georg Steinhauser untersuchte 48 Wildschweine, die von 2019 bis 2021 in Bayern erlegt wurden, auf im Fleisch nachweisbares Cäsium-137. Das ist ein radioaktives Isotop von Cäsium, das in der Natur so nicht vorkommt. Es entsteht bei Kernspaltung in Atomkraftwerken oder bei der Explosion von Atomwaffen.
Die Studie, die jetzt im Fachmagazin Environmental Science & Technology veröffentlicht wurde, stellte dabei Strahlenwerte bis zu 15'000 Becquerel pro Kilogramm Wildschweinfleisch fest. Im Durchschnitt wiesen die untersuchten Fleischproben 1'700 Becquerel auf, fast dreimal so viel wie erlaubt. Ein beachtlicher Anteil des Cäsium-137 in den Wildschweinen stammt jedoch nicht von dem Tschernobyl-Unglück, sondern ist deutlich älter. Das radioaktive Material wurde nach Aussage der Studienautoren bei den US-amerikanischen und sowjetischen Atomwaffentests frei, die vor allem von 1950 bis 1963 überirdisch stattfanden. Der Fallout fand weltweit statt. Auch in Bayern.
Da sich das Waffen-Cäsium-137 nicht vom Reaktor-Cäsium-137 unterscheidet, griffen die Forscher zur Rückverfolgung des Cäsium-137 zum Ursprung hilfsweise auf Cäsium-135 zurück. Auch dieses Cäsium-Isotop entsteht in beiden Fällen, jedoch in unterschiedlichen Mengen. Das Verhältnis von Cäsium-135 zu Cäsium-137 ist bei Atomwaffentests etwa 2 zu 1, beim Reaktorunglück von Tschernobyl dagegen etwa 1 zu 2. Damit ergibt sich aus dem Mengenverhältnis beider Isotope ein spezifischer Fingerabdruck, der Auskunft über den Ursprung einer Cäsium-137-Belastung gibt.
Trüffelschwein, lass es sein
In unserer Umgebung macht das Cäsium-137, das bei den Atomwaffentests frei wurde, nur noch etwa zehn Prozent der Gesamtbelastung aus, 90 Prozent des Cäsium-137 stammen vom GAU in Tschernobyl. Doch bei den für die Studie untersuchten Wildschweinen sah es anders aus: Die Forscher fanden hier nicht nur Cäsium-137 mit dem radioaktiven Fingerabdruck von Tschernobyl. Teilweise ließ sich das Cäsium-137 in ihrem Fleisch zu fast zwei Dritteln auf die Atomwaffentests zurückführen. Denn, so die Erklärung der Studie, die Wildschweine nehmen es mit einer ganz speziellen Nahrung auf.
Cäsium-137 braucht sehr lange, um durch die Erdschichten in größere Tiefen zu wandern. Dabei gibt es große regionale Unterschiede: Je nach Menge der Niederschläge und Zusammensetzung der Böden wird Cäsium-137 schneller oder langsamer im Boden nach unten transportiert. Und trifft dort auf "Akkumulatoren": Etwas, das das radioaktive Material lange speichert – wie Pilze. Je tiefer solche Akkumulatoren im Boden liegen, umso älter ist das dort gespeicherte Cäsium-137, legt die Studie nahe.
Hirschtrüffel sind seit langem dafür bekannt, dass sie mit großen Mengen von Cäsium-137 stark radioaktiv belastet sind. Diese für Menschen ungenießbaren Pilze dienen Wildschweinen regelmäßig als Nahrung. Insbesondere, wenn im Winter andere Nahrungsquellen knapp werden, buddeln die Wildschweine auch tief unter der Erde liegenden Hirschtrüffel aus. Die Schlussfolgerung der Studie: Den Hirschtrüffel hat bislang offenbar vor allem das radioaktive Material der Atomwaffentests vor 60 bis 70 Jahren erreicht. So erklärt sich, dass das "alte" Cäsium überproportional im Wildschwein festzustellen ist – das Tschernobyl-Cäsium ist beim Hirschtrüffel noch gar nicht in vollem Ausmaß angekommen. Das heißt aber auch: Die volle radioaktive Belastung der Hirschtrüffel durch Tschernobyl wird erst noch kommen und das Fleisch von Wildschweinen wird demnach noch lange stark belastet sein.
Quellen
Wildpilze: Erst über Cäsium-Belastung informieren – dann genießen (BfS-Pressemitteilung vom 28.08.2023)
Warum Wildschweine in Bayern radioaktiv so belastet sind (BR24-Beitrag vom 03.09.2023)
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –