Neues von Berenis (33): Juni 2023 (Forschung)
Im Zeitraum von Mitte Juli bis Mitte Oktober 2022 wurden 115 neue Publikationen identifiziert, von denen sechs von Berenis vertieft diskutiert wurden. Drei davon sind gemäß den Auswahlkriterien besonders relevant. Sie wurden somit zur Bewertung ausgewählt und werden im Folgenden gekürzt vorgestellt. Ungekürzt gibt es den aktuellen Berenis-Newsletter hier.
Experimentelle Tier- und Zellstudien
Beeinflussung des Tumorsuppressors p53 durch niederfrequente Magnetfeld-Exposition (Martínez et al. 2022)
In dieser In-vitro-Studie werden neue Beobachtungen vorgestellt, die auf einer bereits publizierten Studie basieren. Dieselbe Forschungsgruppe berichtete über Veränderungen von Signalkaskaden und der Zellproliferation durch niederfrequente Magnetfelder (100 μT, 50 Hz) in menschlichen Hirntumorzellen (NB-69 Neuroblastoma-Zellen) (siehe beispielsweise Berenis-Newsletter Nr. 7). In der neuen Studie von Martínez und Kollegen (2022) wurden NB-69-Zellen akut für 30 bis 120 Minuten exponiert und der Einfluss auf den Tumorsuppressor p53 untersucht. Das Protein p53 spielt eine zentrale Rolle in der zellulären Stressantwort und reguliert unter anderem Genaktivitäten, Reparatur von DNS-Schädigungen, kontrollierten Zelltod (Apoptose) und Zellproliferation. Nach 90-minütiger Exposition der Zellkulturen wurde ein vorübergehender Anstieg von p53-Proteinen beobachtet, was auch mit erhöhter Genexpression einherging. Nach zwei Stunden Befeldung war die Menge an p53 im Vergleich zu Kontrollzellen aber reduziert. Die Zunahme war nicht auf die normal strukturierte Form von p53 zurückzuführen, sondern auf mehr ungefaltetes, nicht aktives p53-Protein im Zytoplasma sowie im Zellkern, wie es auch nach chemischem Stress auftritt. Der Anteil von Zellen mit normal strukturiertem p53 im Zytoplasma war reduziert. [...] Die Studie von Martínez et al. (2022) wurde gut kontrolliert durchgeführt und liefert neue Erkenntnisse zum Ablauf und zu Konsequenzen von NF-Magnetfeld-Exposition auf Zellen. Es bleibt aber zu untersuchen, ob es sich hierbei um einen allgemein gültigen Mechanismus handelt, der potentiell im Hinblick auf gesundheitliche Auswirkungen relevant ist, oder um eine Reaktion dieses spezifischen Zelltyps.
Epidemiologische Studien
Zeitliche Entwicklung der Mobiltelefonnutzung und Auftreten von Gehirntumoren bei Männern in den nordischen Ländern von 1979 bis 2016 (Deltour et al. 2022)
In der Studie von Deltour et al. (2022) wurde anhand von nationalen Krebsregisterdaten in Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden in einem ersten Schritt untersucht, wie viele Gehirntumorfälle (Gliome) zwischen 1979 und 2016 bei Männern im Alter von 40 bis 69 Jahren diagnostiziert wurden. Diese Gruppe wurde ausgewählt, da sie in den nordischen Ländern in den Anfangszeiten der Mobilfunknutzung die Hauptnutzergruppe darstellte und sich ein allfällig erhöhtes Hirntumorrisiko zuerst in dieser Altersgruppe manifestieren könnte. In einem weiteren Schritt wurde dann analysiert, inwieweit diese tatsächlich aufgetretenen Fallzahlen mit hypothetischen Berechnungen aus zuvor veröffentlichten epidemiologischen Studien zu möglichen Gehirntumorrisiken durch Nutzung von Mobiltelefonen übereinstimmen. Die zum Vergleich herangezogenen hypothetischen Risikoberechnungen stammen aus verschiedenen Fallkontrollstudien, in welchen erhöhte Risiken beobachtet wurden (Coureau et al. 2014, Hardell & Carlberg 2015, Momoli et al. 2017, Interphone Study Group 2010). Hierbei zeigte sich, dass die tatsächlich beobachteten Fallzahlen in der betreffenden Bevölkerungsgruppe nicht mit den hypothetischen Berechnungen eines erhöhten Risikos vereinbar waren. [...] Die Autorinnen und Autoren schliessen daraus, dass erhöhte Risiken in den Grössenordnungen, wie sie in den herangezogenen Fallkontrollstudien beobachtet wurden, nicht plausibel sind. Die Studie deutet darauf hin, dass in den nordischen Ländern im Hinblick auf Gliome keine Veränderungen in den Fallzahlen aufgetreten sind, die mit einem substantiellen Risiko aufgrund von Mobiltelefon-Nutzung vereinbar wären. Auch wenn die Studie keine individuellen Expositionsdaten zur Verfügung hatte, ist unbestritten, dass sich ein Risiko durch die Mobilfunknutzung in einer Zunahme von Diagnosen äussern müsste, da es für Hirntumoren kaum andere Risikofaktoren gibt, die sich über die Zeit verändert haben und ein eventuelles Risiko kompensieren könnten. Ein umfassender Bericht mit Daten zu anderen Altersgruppen und Frauen ist beim Bundesamt für Strahlenschutz in Deutschland in Deutsch publiziert.
Auf elektromagnetische Hypersensibilität zurückgeführte Gesundheitsbeschwerden im zeitlichen Verlauf – Ergebnisse aus einer niederländischen Kohortenstudie (Traini et al. 2022)
In der Studie von Traini et al. (2022) wurde untersucht, welche Faktoren eine Rolle dabei spielen, dass individuell bestehende Gesundheitsbeschwerden auf elektromagnetische Hypersensibilität (EHS) im Hinblick auf HF-EMF zurückgeführt werden und wie sich diese Zuschreibung im zeitlichen Verlauf über 10 Jahre möglicherweise verändert. Dazu wurden 892 Teilnehmende einer Kohortenstudie in den Niederlanden an drei Zeitpunkten befragt, zunächst in den Jahren 2011/2012, dann nochmals 2013 und schliesslich 2021. Das Durchschnittsalter zu Beginn der Studie war 50 Jahre (52 % Frauen). Erhoben wurden selbstberichtete Daten zu HF-EMF-Exposition, HF-EMF-Risiko, unspezifischen Symptomen, Schlafproblemen, und selbstdeklarierte EHS. Zu jedem der drei Befragungszeitpunkte führten etwa 1 % der Teilnehmenden gesundheitliche Beschwerden auf HF-EMF zurück. Während dieser Gesamtprozentsatz über den Studienzeitraum gleich blieb, verlief die EHS-Zuschreibung im Laufe der Zeit individuell deutlich dynamischer. So gaben nach 10 Jahren nur noch 5 % der selbstdeklarierten EHS-Personen an, immer noch unter Beschwerden wegen EMF zu leiden. Bei der letzten Befragung im Jahr 2021 wurden die Studienteilnehmenden gefragt wie elektrosensibel sie sich auf einer Skala von 1-6 einschätzen. Von 892 Befragten gaben 12,1 % einen Wert zwischen 4-6 an und wurden als EHS klassiert. Teilnehmende, welche ihre EMF-Exposition und das damit verbundene Risiko als hoch wahrnahmen, hatten eine grössere Wahrscheinlichkeit, sich als EHS zu deklarieren. Die Befragung zeigt, dass die Art, wie man nach EHS fragt, grossen Einfluss auf die Häufigkeit hat. Eine Schwäche der Studie ist die geringe Anzahl Personen beim Start der Studie (9 Personen), welche Symptome HF-EMF zuschrieben. Zufällige Fehler könnten also das Resultat beeinflusst haben. [...]
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –