Neues von Berenis (31): Dezember 2022 (Forschung)
Im Zeitraum von Mitte Januar bis Mitte April 2022 wurden 108 neue Publikationen identifiziert, von denen sechs von Berenis vertieft diskutiert wurden. Fünf davon sind gemäß den Auswahlkriterien besonders relevant. Sie wurden somit zur Bewertung ausgewählt und werden im Folgenden gekürzt vorgestellt. Ungekürzt gibt es den aktuellen Berenis-Newsletter hier.
Experimentelle Tier- und Zellstudien
Entstehung von Indikatoren für Tumorbildung durch HF-EMF-Exposition (Ding et al. 2022)
In der in vitro-Studie von Ding und Kollegen (2022) wurde in einem Zellkultur-Modellsystem der Frage nachgegangen, ob es Hinweise auf krebsauslösende Ereignisse durch kontinuierliche und langanhaltende HF-EMF-Exposition (1,8 GHz, 8 W/kg SAR, 4 Std/Tag) gibt. Die Autoren haben embryonale Fibroblasten von Mäusen (Balb/c-3T3 Zellen) für 40 oder 60 Tage exponiert und diese zusätzlich mit einer Tumorwachstum-fördernden Chemikalie (Tetradecanoylphorbol-Acetat - TPA) behandelt. Während sich in scheinexponierten Kontrollen keine Zellansammlungen ausgebildet haben, fanden die Autoren einige solche in HF-EMF-exponierten Kulturen. Dass es sich bei diesen Zellen mit verändertem Erscheinungsbild tatsächlich um krebsartige Veränderungen handelte, wurde dann mittels klassischer Tests (Migrationsverhalten, Kolonie- und Tumorbildung) sowie einer genomweiten Genaktivitätsanalyse gezeigt. Die Autoren schliessen aus ihren Untersuchungen, dass eine hohe HF-EMF-Exposition potentiell krebsartige Zelltransformation auslösen kann, was sich mit den Beobachtungen aus Tierstudien zu Krebsbildung deckt (siehe Newsletter-Sonderausgabe November 2018). Allerdings ist die Übertragbarkeit und Aussagekraft dieser Zellkulturmodelle begrenzt. [...]
Veränderungen der Anregbarkeit von Neuronen durch HF-EMF (Echchgadda et al. 2022)
Anhand von elektrophysiologischen Untersuchungen wurde in der in vitro-Studie von Echchgadda et al. (2022) nach Hinweisen für kognitive Veränderungen bedingt durch HF-EMF-Exposition gesucht. Dazu haben die Autoren primäre Neuronen aus dem Hippocampus von Ratten isoliert und für 60 Minuten einem HF-EMF ausgesetzt (3 GHz, E-Feld: 137 V/m, durchschnittliche SAR: 0,3 W/kg, maximale SAR: 0,8 W/kg) und innerhalb 15-30 Minuten analysiert. Es wurde beobachtet, dass das herbeigeführte Aktivierungspotential der Neuronen durch das HF-EMF um 10 % reduziert und die Potentialveränderung verlängert wurde. Weiterhin wurde gefunden, dass das Ruhepotential der Zellmembranen verringert war, und dass diese Depolarisation die Erregbarkeit der Neuronen förderte. Als Grund dafür gaben die Autoren eine erhöhte Kalziumkonzentration der Zellen an. Dies wirkte sich auch auf die präsynaptische Ausschüttung von stimulierenden und inhibierenden Neurotransmittern (Glutamat, GABA) aus und führte zu vermehrten spontanen Aktivierungen und veränderten Amplituden von post-synaptischen Neuronen. Diese Effekte konnten durch Blockierung von spannungsabhängigen Natriumkanälen neutralisiert werden. Aus ihren Beobachtungen schlussfolgerten die Autoren, dass es zwar Hinweise für einen Einfluss des HF-EMF auf neuronale Aktivität gibt, deren Bedeutung für kognitive Veränderung aber weder ausgeschlossen noch bestätigt werden konnte. [...]
Exposition bei 1800 MHz nach entzündlichem Stimulus vermindert die Antwortstärke und erhöht den akustischen Schwellenwert für die Aktivität auditorischer Nervenzellen bei Ratten (Souffi et al. 2022)
Die Mikroglia, die Immuneffektorzellen des Zentralnervensystems, beeinflusst nachweislich die Aktivität von Nervenzellen im Gehirn. Auswirkungen von HF-EMF-Exposition (LTE 1800 MHz, 0,5 W/kg SAR im Gehirn) auf die Morphologie der Mikroglia im Gehirn sowie auf Aktivität von Nervenzellen nach akustischen Stimuli wurden bei Ratten untersucht. Der Kopf der Tiere wurden jeweils für 2 Stunden HF-EMF- oder scheinexponiert. Nach 3-6 Stunden wurde die neuronale Aktivität sowie die Morphologie der Mikroglia im auditorischen Kortex (Hirnareal) analysiert. Vorgängig an die HF-EMF-Exposition wurde in einer Gruppe eine entzündliche Reaktion im Bauchraum ausgelöst, was zu einer Aktivierung der Mikroglia führt und die Wirkungen viraler oder bakterieller Infektionen simuliert. Beide Gruppen wurden jeweils HF-EMF- oder scheinexponiert. Bei Tieren, die einen entzündlichen Stimulus erhielten und HF-EMF-exponiert wurden, war die Antwort (Aktivität der Nervenzellen) von reinen Tönen sowie natürlicher Vokalisation reduziert, was auch mit einem Anstieg der akustischen Schwelle für niedrige und mittlere Frequenzen (0,5-20 kHz) verbunden war. In der Gruppe ohne pro-entzündlichen Stimulus gab es keine Unterschiede zwischen HF-EMF- und scheinexponierten Tieren. Die HF-EMF-Exposition ist jedoch mit Unsicherheiten behaftet, da bereits geringe Abweichungen in der Positionierung des Kopfes der Tiere zu einer Variation der Exposition führen können. Allerdings kann angenommen werden, dass die Variabilität in allen Gruppen ähnlich ist. Im Vergleich zu einer vorherigen Studie (GSM 1800 MHz) derselben Arbeitsgruppe, in der Ratten bei 1,55 W/kg HF-EMF- bzw. scheinexponiert wurden, wurden hier keine Unterschiede in der Morphologie der Mikroglia gefunden (Occelli et al. 2018). [...]
Epidemiologische Studien
Mobiltelefonnutzung und Risiko von Hirntumoren: Update der UK Million Women Study (Schüz et al. 2022)
Schüz et al. (2022) haben die Ergebnisse einer grossen laufenden prospektiven Kohortenstudie zum Hirntumorrisiko im Zusammenhang mit der Mobilfunknutzung aktualisiert. Zwischen 1996 und 2001 wurden in Grossbritannien 1,3 Millionen Frauen der Geburtsjahrgänge 1935-1950 für die Studie rekrutiert. Fragen zur Nutzung von Mobiltelefonen wurden im Jahr 2001 und erneut im Jahr 2011 gestellt. Es wurde jeweils gefragt seit wie vielen Jahren ein Mobiltelefon genutzt wurde und wie lange pro Tag. Bei der Erhebung im Jahr 2001 wurden die drei Kategorien «nie», «weniger als einmal pro Tag» und «täglich» erhoben. Bei der Erhebung im Jahr 2011 wurde nach der Anzahl Minuten pro Tag gefragt. Anhand der Daten des Krebsregisters wurde das Auftreten von gut- und bösartigen Tumoren im Schädelinnern identifiziert. Separate Analysen wurden für Gliome, Glioblastome, Akustikusneurinome, Meningeome und Hypophysen-Tumoren durchgeführt. Alle Analysen berücksichtigten den sozioökonomischen Status, Rauchen, Alkoholkonsum, Body-Mass-Index, Menopause-Hormontherapie und sportliche Aktivität. In der 14-jährigen Beobachtungsdauer wurden bei den rund 780'000 Frauen, die im Jahr 2001 einen Fragebogen zur Mobilfunknutzung ausgefüllt hatten, 3268 Hirntumorfälle registriert. Das Hirntumorrisiko war für Mobilfunknutzende im Vergleich zu Nicht-Nutzenden nicht erhöht (relatives Risiko: 0,97, 95% Konfidenzintervall: 0,90 bis 1,04) und auch nach 10-jähriger Mobiltelefonnutzung war kein erhöhtes Risiko erkennbar (relatives Risiko: 0,95, 95% Konfidenzintervall: 0,87 bis 1,05). Keiner der untersuchten Tumortypen war mit Mobilfunknutzung assoziiert. Tumore traten nicht häufiger an den stark exponierten Kopfregionen auf (Schläfe). Auch eine Analyse basierend auf den Daten von 430'000 Frauen, welche im Jahr 2011 Angaben zu ihrem Mobiltelefongebrauch machten, gab keine Hinweise auf ein erhöhtes Risiko. [...] Das Hauptziel der Studie war die Untersuchung der gesundheitlichen Auswirkungen von Hormonersatztherapie bei Frauen. Das erklärt die rudimentäre Abschätzung der Mobilfunknutzung, welche nur zwei Fragen umfasst und eine geringe zeitliche Auflösung hat. Damit sind Fehler in der Expositionszuschreibung unvermeidlich. Aufgrund der prospektiven Abschätzung sind diese Fehler aber nicht mit der Krankheit assoziiert und daher zufällig. Damit würde ein eventuell vorhandenes Risiko unterschätzt. Ohne Validierungsdaten zur Expositionsabschätzung ist es schwierig abzuschätzen, wie gross eine eventuelle Risikounterschätzung ist. Es ist zu erwarten, dass ein kleines Krebsrisiko verpasst werden würde, ein substanzielles Risiko aber nachweisbar wäre. Die Bedeutung sowie Stärken und Schwächen der Studie werden in einem unabhängigen Editorial diskutiert.
Experimentelle Humanstudien Keine Veränderung der Konnektivität in Netzwerken des Gehirns nach 4G-Exposition (Yang et al. 2022)
Siebzehn Teilnehmende (rechtshändig, 9 Männer, 8 Frauen) wurden während 30 Minuten einem 4G- Signal (LTE; 2,573 GHz; 1,22 W/kg max. SAR (gemittelt über 10 g Körpergewebe) oder einer entsprechenden Kontrollbedingung (keine Exposition) ausgesetzt. Eine Dipolantenne wurde 1 cm vom rechten Ohr entfernt platziert. Mittels funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRI) wurde der Einfluss der Strahlung auf die Netzwerkkonnektivität (statische und dynamische Verbindungen) im Gehirn untersucht. Vierzehn Netzwerke wurden identifiziert und untersucht. Die Exposition führte zu keinen signifikanten Veränderungen der Konnektivität. [...] Die Autoren schlussfolgerten, dass die Kurzzeitexposition ungenügend war, um auf der Ebene der Hirnkonnektivität detektiert zu werden. Es ist allerdings fraglich, ob sich die Magnetresonanztomographie als Messmethode eignet, da während dem Scannen selbst starke HF-Felder appliziert werden, die die Expositionseffekte überdecken könnten.
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –