Wissenschaftler entdecken: EHS verschwindet mit der Zeit (Elektrosensibilität)

H. Lamarr @, München, Montag, 19.12.2022, 00:10 (vor 709 Tagen)

Eine wissenschaftliche Arbeitsgruppe um Eugenio Traini interessierte sich dafür, ob und wie die Zuschreibung von Gesundheitsbeschwerden auf die Einwirkung von HF-EMF bei "elektrosensiblen" Personen sich im Laufe der Zeit ändert. Bislang war darüber nur wenig bekannt. Die jetzt vorliegenden Ergebnisse lassen aufhorchen.

Die Arbeitsgruppe ersann ein ziemlich komplexes Studiendesign, während dessen Umsetzung eine große vorhandene niederländische Studienkohorte über zehn Jahre hinweg mehrfach nach der wahrgenommenen HF-EMF-Exposition befragt wurde, nach der Risikoeinschätzung und Besorgnis, auch in Bezug auf 5G, nach Symptomen und deren Zuordnung zur HF-EMF-Exposition. Die so gesammelten Daten wurden mit "Markov-Modellen" ausgewertet. Solche Modelle sind ein Werkzeug der Stochastik, das bei Kenntnis einer begrenzten Vorgeschichte Prognosen über die zukünftige Entwicklung einer Untersuchungsgröße zulässt.

Ihre bemerkenswerten Erkenntnisse publizierte die Arbeitsgruppe vorab online in dem Fachblatt "Science of The Total Environment" unter dem sperrigen Titel "Time course of health complaints attributed to RF-EMF exposure and predictors of electromagnetic hypersensitivity over 10 years in a prospective cohort of Dutch adults" (Volltext). Bemerkenswert sind die Ergebnisse dieser ungewöhnlichen Studie deshalb, weil den Wissenschaftlern zufolge "Elektrosensibilität" kein unabänderliches Schicksal mit teils erheblichen Einbußen an Lebensqualität ist, sondern mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine im Laufe von zehn Jahren vorübergehende Phase. Danach werden die Symptome nicht mehr mit HF-EMF in Verbindung gebracht.

Abstract

Der folgende Abstract macht das Studiendesign etwas transparenter, Laien werden daran jedoch wenig Freude haben:

Hintergrund: Manche Menschen führen gesundheitliche Beschwerden auf die Exposition gegenüber hochfrequenten elektromagnetischen Feldern (HF-EMF) zurück. Dieser Zustand, der als idiopathische Umweltintoleranz, die auf HF-EMF zurückzuführen ist (IEI-HF) oder elektromagnetische Hypersensibilität (EHS) bekannt ist, kann für die Betroffenen eine Beeinträchtigung darstellen. In dieser Studie untersuchten wir die Faktoren, die mit der Entwicklung, Aufrechterhaltung oder Aufgabe einer IEI-HF im Laufe von zehn Jahren zusammenhängen, sowie die Prädiktoren für die Entwicklung einer EHS bei der Nachuntersuchung, indem wir eine gezielte Frage ohne die Bedingung stellten, Gesundheitsbeschwerden zu melden, die auf HF-EMF-Exposition zurückzuführen sind.

Methode: Die Teilnehmer (n=892, Durchschnittsalter 50 bei Studienbeginn, 52 Prozent Frauen) der niederländischen Arbeits- und Umweltgesundheits-Kohortenstudie "Amigo" füllten 2011/2012 (T0), 2013 (T1) und 2021 (T4) Fragebögen aus, mit denen Informationen zur wahrgenommenen HF-EMF-Exposition und zur Risikoeinstufung, zu unspezifischen Symptomen, Schlafproblemen sowie zu IEI-HF und EHS gesammelt wurden. Wir passten Markov-Modelle mit mehreren Phasen an, um darzustellen, wie IEI-HF-Personen zwischen den beiden Zuständen ("ja", "nein") wechselten.

Ergebnisse: Zu jedem Zeitpunkt berichteten etwa 1 Prozent der Studienteilnehmer über Gesundheitsbeschwerden, die sie auf die HF-EMF-Exposition zurückführten. Während dieser Prozentsatz stabil blieb, wechselten die Personen, die über solche Beschwerden berichteten, im Laufe der Zeit: Von neun Personen, die bei T0 über Gesundheitsbeschwerden berichteten, nannte nur eine Person sowohl bei T1 als auch bei T4 IEI-HF, und zwei Personen berichteten bei T4 über neue Gesundheitsbeschwerden. Insgesamt hatten die Teilnehmer zu 95 Prozent eine Chance, über einen Zeitraum von zehn Jahren von "ja" zu "nein" zu wechseln, und eine Chance von 1 Prozent, von "nein" zu "ja" zu wechseln. Teilnehmer mit einer hohen wahrgenommenen HF-EMF-Exposition und einer starken Risikowahrnehmung hatten eine allgemeine Tendenz, häufiger zwischen den Zuständen zu wechseln.

Schlussfolgerungen: Wir beobachteten eine niedrige Prävalenz (Rate von einer bestimmten Krankheit betroffener Personen) für IEI-HF in unserer Bevölkerung. Die Prävalenz schwankte nicht stark im Laufe der Zeit, aber es gab einen starken Aspekt der Veränderung: über zehn Jahre hinweg gab es eine hohe Wahrscheinlichkeit, die Symptome nicht mehr auf die HF-EMF-Exposition zurückzuführen. IEI-HF scheint ein Zustand zu sein, der stärker als bisher angenommen vorübergehend ist.

Was IEI-EMF von EHS unterscheidet

Der Gesundheitszustand, der als idiopathische, auf elektromagnetische Felder zurückzuführende Umweltintoleranz (IEI-EMF) bekannt ist, beschreibt Personen, die gesundheitliche Beschwerden wie Kopfschmerzen, Schlafstörungen oder Konzentrationsprobleme auf eine EMF-Exposition zurückführen (Baliatsas et al., 2012; Martens et al., 2017; Röösli et al., 2004). In schweren Fällen kann dies zu Behinderungen oder einer geringeren Lebensqualität führen (Kjellqvist et al., 2016). In ähnlicher Weise bezieht sich der Begriff elektromagnetische Hypersensibilität (EHS) auf Personen, die angeben, überempfindlich gegenüber EMF zu sein, aber nicht notwendigerweise über gesundheitliche Beschwerden berichten, die auf eine solche Exposition zurückzuführen sind (Röösli et al., 2010).

In epidemiologischen Studien werden die Begriffe IEI-EMF und EHS häufig synonym verwendet, was sich wahrscheinlich auf eine große Bandbreite der geschätzten Prävalenz auswirkt, die in Industrieländern zwischen 1,5 Prozent und 21 Prozent liegt (Eltiti et al., 2007; Hillert et al., 2002; Karvala et al., 2018; Levallois et al., 2002; Schreier et al., 2006).

Nachtrag: Den Link zu einer fachlichen Bewertung der Studie durch das BfS gibt es hier.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Wissenschaft, EHS, Mikrowellensyndrom, Elektrosensibilität, Risikobewertung, Notlage, Idiopathie, Niederlande, Kohortenstudie, Hypersensibilität, Risikoeinschätzung, Amigo, Lebensqualität, Umweltintoleranz


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