Der Sisyphuszyklus von Technologiepaniken (Forschung)
In Wohlstandsgesellschaften wie der unseren ist es beliebter Zeitvertreib geworden, sich jedem neuen Mobilfunkstandard oder anderen neuen risikobehafteten Techniken mit echter oder inszenierter Technologiepanik in den Weg zu stellen. Die dann ablaufende Problembewältigungsprozedur erinnert an die griechische Sagengestalt Sisyphus und dessen Stein: Die Prozedur fängt immer wieder neu von vorne an und Politik sowie Forschung sitzen jedes Mal gemeinsam auf der Anklagebank. Die britische Psychologin Amy Orben hat sich Gedanken gemacht, was den Sisyphuszyklus von Technologiepaniken durchbrechen und die Angeklagten entlasten könnte.
Die Ergebnisse ihrer Überlegungen publizierte Orben 2020 in dem Open-Access-Artikel The Sisyphean Cycle of Technology Panics (PDF, 15 Seiten). Wer sich für das Thema interessiert, bekommt im Anschluss als Appetizer auf den Volltext den Abstract und die Schlussfolgerungen in deutscher Übersetzung serviert.
Abstract: Weit verbreitete Bedenken gegenüber neuen Technologien – seien es Roboter, Radio oder Smartphone - finden sich immer wieder in der Geschichte. Obwohl die Geschichten über vergangene Paniken heute häufig mit Belustigung aufgenommen werden, führen aktuelle Bedenken regelmäßig zu großen Forschungsinvestitionen und politischen Debatten. Aus der Untersuchung vergangener technologischer Paniken lernen wir jedoch, dass diese Investitionen oft ineffizient und ineffektiv sind. Doch was führt dazu, dass technologische Paniken immer wieder auftauchen? Und warum versagt die Forschung regelmäßig bei der Bewältigung dieser Probleme? Um diese Fragen zu beantworten, habe ich das Netzwerk aus politischen, bevölkerungsbezogenen und akademischen Faktoren untersucht, das den Sisyphuszyklus der Technologiepanik antreibt. In diesem Zyklus werden Psychologen ermutigt, Zeit damit zu verbringen, neue Technologien und deren Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche zu untersuchen, um die besorgte Bevölkerung zu beruhigen. Ihre Bemühungen werden jedoch durch das Fehlen einer theoretischen Grundlage zunichte gemacht; die Forscher können nicht auf den Erkenntnissen aufbauen, die sie bei der Erforschung früherer besorgniserregender Technologien gewonnen haben. So beginnt die akademische Forschung scheinbar mit jeder neuen Technologie von neuem, was die politischen Maßnahmen verlangsamt, die notwendig sind, um zu gewährleisten, dass die Technologien der Gesellschaft zugute kommen. In diesem Artikel zeige ich auf, wie der Sisyphuszyklus der Technologiepanik die positive Rolle der Psychologie bei der Steuerung des technologischen Wandels behindert und wie dringend notwendig verbesserte Forschungs- und Politikansätze für neue Technologien sind.
Schlussfolgerungen: Die digitalen Technologien formen und verändern derzeit das Leben der Menschen und ihre Lebensweise; ihr Einfluss wird in absehbarer Zukunft wahrscheinlich noch zunehmen. Um zu verstehen, wie sich diese Veränderungen auf die Menschen und die Gesellschaft auswirken werden, sind qualitativ hochwertige wissenschaftliche Erkenntnisse erforderlich, die in einem breiteren historischen Kontext betrachtet werden. Dies wird dazu beitragen, dass Interessengruppen wie Regierungen, Aufsichtsbehörden, Konstrukteure, Programmierer, Eltern und Nutzer digitaler Technologien mit den notwendigen Instrumenten und Informationen ausgestattet werden, um fundierte Entscheidungen in der Gesundheitsversorgung, in der Politik und im persönlichen Bereich zu treffen.
In diesem Sinne gibt es wenig Grund zu der Annahme, dass die künftige Forschung zu neuen Technologien dem Sisyphuszyklus der Technologiepanik entrinnen kann, ohne dass sich der konzeptionelle und empirische Ansatz grundlegend ändert. Das Fehlen eines linearen Ansatzes in diesem Forschungsbereich – der auf der Grundlage eines gesellschaftlichen Problems und nicht einer wissenschaftlichen Theorie entstanden ist – bedeutet, dass Panikzustände bei jeder neuen Technologie, die in der Gesellschaft populär wird, wieder auftauchen. Der wissenschaftliche Fortschritt ist langsam, und die Forschungsergebnisse sind regelmäßig widersprüchlich und höchst verschwenderisch. Dies behindert eine handlungsfähige Wissenschaftskommunikation und Politikgestaltung. Darüber hinaus verankert sich die Technologie schnell in der Gesellschaft, was Veränderungen und Anpassungen erschwert und bedeutet, dass die Bereitstellung von Fakten so schnell wie möglich erfolgen muss. Die Untersuchung vergangener Technologiepaniken hat gezeigt, dass es der Forschung in diesem Bereich regelmäßig nicht gelingt, effizient Antworten auf wichtige und kontroverse Forschungsfragen zu liefern.
Wenn man realistisch ist, gibt es für das Fachgebiet wenig Anstoß, über seine eigene Methodik und seinen Platz im Netzwerk der politischen, akademischen und öffentlichen Sphären nachzudenken, die diesen ineffizienten Kreislauf antreiben. Um zu gewährleisten, dass die Psychologie nicht zum Komplizen eines nicht enden wollenden Sisyphuszyklus von Technologiepaniken wird, muss der Forschungsbereich die Notwendigkeit eines radikalen Wandels anerkennen. Psychologen müssen sich ihrer zunehmend wichtigeren Rolle bewusst werden, die sie bei der Förderung von Technologiepaniken spielen, und sich fragen, ob ihr Handeln der Gesellschaft und der Wissenschaft einen Nettonutzen bringt. Psychologiewissenschaftler müssen eine Debatte darüber anregen, wie die Politik in einer Zeit des beschleunigten technologischen Wandels, aber des langsamen Forschungsfortschritts gestaltet werden kann. Darüber hinaus sollten die Forschungspraktiken so angepasst werden, dass der Forschungsprozess nicht wieder von vorne beginnt, wenn eine neue Technologie eingeführt wird, und dass rasch Nachweise erbracht werden. Das Reflektieren, Diskutieren und Anpassen des Feldes, um den Sisyphuszyklus der Technologiepanik zu bewältigen, kann die Psychologie letztendlich in die Lage versetzen, die vorhersehbaren öffentlichen Bedenken über aufkommende Technologien in eine produktivere und effizientere Zukunft zu lenken.
--
Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –