Ein Arzt packt aus ... (Elektrosensibilität)
Michel Marchev arbeitete 40 Jahre lang als Hausarzt. Im Interview erzählt er von Hypochondern, Modekrankheiten, unnützen Eingriffen und seinem gravierendsten Fehler (Auszüge):
[...] Alltag sind auch Störungen, die eher in den psychosomatischen Bereich gehören. Das ist ein Vorteil der Hausarztmedizin: Wenn ich einen Patienten und dessen Umfeld schon lange kenne, merke ich, dass das Problem woanders liegt als bei den Symptomen, die er mir präsentiert. In einem Vertrauensverhältnis kann ich das ansprechen.
Die Leute reagieren nicht beleidigt?
Nein, überhaupt nicht. Sie sind froh, wenn sie ihre wirklichen Probleme thematisieren können – Schwierigkeiten in der Familie, in der Beziehung, bei der Arbeit. Diese wirken sich sehr häufig auf den Körper aus und resultieren in unspezifischen Beschwerden, zum Beispiel Bauchschmerzen oder Kopfweh. Mit einer kleinen hausärztlichen Psychotherapie können wir schon viel helfen. [...]
Wie ernst nehmen Sie die Überalarmierten?
Wir Hausärzte sollten alle Patienten ernst nehmen. Ich musste einst an mehreren Abenden zu einem Mann ausrücken, der angeblich einen epileptischen Anfall hatte. Die Situation war grotesk, im Wohnzimmer sass immer die Frau auf dem Sofa, die Füsse auf dem Tisch – und am Boden lag der Mann. Es war wie ein Ritual. Ich spritzte ihm jeweils ein Mittel, und er kam sofort zu sich, viel schneller, als dass das Medikament hätte wirken können. X-fache Abklärungen bei Spezialisten hatten bei diesem Patienten nichts ergeben.
Und dann?
Einmal kam der Anruf nicht am Abend, sondern mitten in der Nacht. Ich dachte: Das ist nicht gut, völlig ausserhalb des Musters. Und tatsächlich: Der Mann hatte einen schweren Herzinfarkt. Es war mein Bauchgefühl, das mich gewarnt hat. Auch ein Computer, der alle möglichen Krankheitsvariablen durchrechnet, kann dieses Bauchgefühl nicht ersetzen.
Haben Sie es oft mit Hypochondern zu tun?
Es gibt die Personen, die keine Lust haben, arbeiten zu gehen, und ein ärztliches Zeugnis brauchen. Einige meiner Kollegen sind «liebi Sieche» und machen da mit. Ich hingegen war immer strikt, ich wollte nicht beim Bescheissen helfen. Deshalb kamen die Arbeitsscheuen dann auch nicht mehr zu mir, diesem «sturen Bock».
Und richtige eingebildete Kranke gibt es nicht?
Doch, schon. Das sind jene, die ständig das Gefühl haben, an irgendetwas erkrankt zu sein. Im Zeitalter von Dr. Google wissen sie von Sachen, von denen ich noch nie gehört habe. Aber sie können die Informationen gar nicht einordnen. Sie haben keine Ahnung, wie gross die Wahrscheinlichkeit ist, dass genau sie jetzt diese Krankheit haben. Es ist aber auf jeden Fall besser, wenn solche Leute zu einem Hausarzt gehen statt direkt ins Spital.
Warum?
Die Kollegen in den Notfallstationen klären die Patienten dermassen breit ab, dass sie sicher etwas finden. Reine Zufallsbefunde, aber niemand hat das «Füdle», um zu sagen: Das ist nicht so schlimm, das vergessen wir jetzt. Stattdessen empfehlen sie, das MRI in einem halben Jahr nochmals zu wiederholen, zur Sicherheit. Das macht die Patienten kränker, als sie wirklich sind. [...]
Was ist mit Burnout?
Das ist nicht nur eine Modekrankheit. Die Arbeitswelt ist stressiger geworden. Mal eine Pause machen, es ruhiger anzugehen: Das ist seltener möglich. Die Ziele werden immer höher angesetzt. Das schleisst die Leute. Gleichzeitig dient Burnout auch dazu, andere Krankheiten zu kaschieren, etwa eine Depression. Burnout ist salonfähiger – man hat ja zu viel geleistet.
Haben psychische Krankheiten generell zugenommen?
Ja, es kommen deutlich mehr Patienten mit psychischen Problemen. Wir leben heute in einer ganz anderen Welt. In den 1960er und 1970er Jahren herrschte Optimismus, man ging davon aus, dass es mit der Wirtschaft und auch sonst stets aufwärtsgehe. Das ist alles weg. Klimawandel, ungesicherte Renten, Corona, Krieg: Es dominiert das Gefühl, dass es keine bessere Zukunft gibt. Das belastet natürlich das Gemüt. [...]