Neues von Berenis (28): März 2022 (Forschung)

H. Lamarr @, München, Freitag, 11.03.2022, 13:21 (vor 749 Tagen)

Im Zeitraum von Anfang Mai bis Ende Juli 2021 wurden 106 neue Publikationen identifiziert, von denen sechs von Berenis vertieft diskutiert wurden. Zwei davon sind gemäß den Auswahlkriterien besonders relevant. Sie wurden somit zur Bewertung ausgewählt und werden im Folgenden gekürzt vorgestellt. Zusätzlich wird eine Studie zur Risikowahrnehmung von 5G (Frey 2021) besprochen, die bereits Ende 2020 als Vorab-Publikation (Preprint) erfasst wurde, und im September 2021 in der endgültigen Fassung (peer-reviewed) veröffentlicht worden ist. Ungekürzt gibt es den aktuellen Berenis-Newsletter hier.

Experimentelle Tier- und Zellstudien

HF-EMF-Exposition von jungen Mäusen nach der Geburt verändert postsynaptische Strukturen und hemmt das Auswachsen von Neuriten in Nervenzellen des Hippocampus (Kim et al. 2021)
Auswirkungen von HF-EMF auf das Lernverhalten und Gedächtnis von Kindern sind wenig erforscht. In einer Tierstudie mit jungen Mäusen untersuchten Kim et al. (2021) die Gedächtnisleistung nach Exposition der Jungtiere für 28 Tage für 5 Stunden pro Tag (1850 MHz, Ganzkörper-SAR: 4 W/kg). Weiterhin wurden die Länge und die Morphologie der Auswüchse der Nervenzellen (Neuriten) sowie deren Verzweigungen ("dendritic spines") gemessen. Diese sind wichtig für die synaptische Aktivität und die Signalübertragung. In dieser Studie wurden die Untersuchungen einerseits in der Hirnregion Hippocampus, die Teil des limbischen Systems ist und eine Rolle in der Verarbeitung von Emotionen, beim Lernen und beim Gedächtnis spielt, sowie in primären Zellkulturen aus dieser Hirnregion vorgenommen. Diese wurden ebenfalls bei 4 W/kg SAR für 5 Stunden pro Tag für insgesamt neun Tage exponiert. Proteine, die funktionell für die Signalübertragung von Bedeutung sind, wie Glutamat Rezeptoren, "postsynaptic density protein" (PSD95) sowie "brain-derived neurotropic factor" (BDNF) wurden zu verschiedenen Zeitpunkten analysiert. Eine wichtige Aufgabe von BDNF, einem Wachstumsfaktor, der insbesondere im Bereich von Vorderhirn, Hippocampus und Großhirnrinde vorkommt, ist der Schutz von bereits existierenden Neuronen und Synapsen. Ferner stimuliert BDNF das Wachstum und die Weiterentwicklung neuer Nervenzellen, neuronaler Bahnen und Synapsen.

Die Resultate in vivo zeigten, dass die Anzahl der "dendritic spines" in Neuronen der Unterregion Gyrus dentatus, nicht aber Cornu ammonis des Hippocampus bei HF-EMF-exponierten Tieren reduziert war. Zudem waren die Glutamat-Rezeptoren auf den pilzförmigen Fortsätzen sowie die Expression von BDNF in beiden Regionen geringer. In Übereinstimmung mit den morphologischen Befunden nahm die Gedächtnisleistung der HF-EMF-exponierten Tiere im Vergleich zu scheinexponierten Kontrollen ab. [...]

Veränderung der Differenzierung von Neuronen durch hochfrequente EMF (Chen et al. 2021)
In der in vitro Studie von Chen et al. (2021) wurde der Einfluss eines GSM-modulierten HF-EMF (1,8 GHz, SAR: 4 W/kg, 5/10 Minuten an/aus) auf die Entwicklung von Neuronen untersucht. Dazu haben die Autoren neuronale Stammzellen von Mausembryonen während 48 Stunden dem HF-EMF ausgesetzt. Die Exposition der Zellen wurde ein bis zwei Tage nach dem Auslösen des Differenzierungsprozesses durchgeführt, der unter unbeeinflussten Bedingungen zu Ausdifferenzierung zu 55 % Neuronen und 35 % Astrozyten führte. Zudem wurden die wichtigsten Beobachtungen und Befunde auch in differenzierenden Neuro-2a Neuroblastom-Zellen bestätigt.

Zuerst haben die Autoren die globale Veränderung der Genexpression durch die HF-EMF-Exposition während der Differenzierung analysiert und dabei Änderungen der Expression von circa 240 Genen gefunden. [...] So wurden durch die HF-EMF-Exposition die Länge und Anzahl der Verästelung der Neuriten verringert. Dies ging einher mit einer Reduktion des Mikrotubuli-assoziierten Proteins DCX und des Ephrin-Ligand Rezeptors Epha5. Die Autoren untersuchten mittels pharmakologischer Inhibierung und Modulation von Signalwegen den Mechanismus, der zu den Veränderungen der Rezeptoraktivität führte.

Die Autoren schliessen aus ihren Beobachtungen, dass der Ephrin-Ligand-Rezeptor Epha5 eine zentrale Rolle für die Verminderung der neuronalen Entwicklung durch GSM-modulierte HF-EMF spielt, und spekulieren über veränderte Kalzium-Signalwege als Ursache für die Reduktion von Epha5. Neben der gut dokumentierten Rolle in der Entwicklung und Funktion von Neuronen wird eine Beeinflussung von Kalzium- und anderen Ionenkanälen als mögliche Ursache für Effekte beziehungsweise als Wirkungsmechanismus von EMF häufig genannt. Diese werden in einer aktuellen Übersichtsarbeit von Bertagna et al. (2021) ausführlicher diskutiert (siehe unten). Die Befunde der Studie von Chen et al. (2021) und ähnliche Beobachtungen in Tiermodellen und kultivierten Zellen bezüglich neuronaler Entwicklung sind demnach nachvollziehbar und bedürfen einer genaueren Betrachtung.

Studie zur Risikowahrnehmung

Risikowahrnehmung von 5G: Eine systematische Fallstudie (Frey 2021)
Frey (2021) hat zwei Erhebungen zur Risikowahrnehmung bezüglich der neuen Mobilfunktechnologie 5G in der Schweiz durchgeführt. Die erste Erhebung fand vor der Veröffentlichung des 5G-Expertenberichts des Eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK, November 2019) statt. Sie zeigte, dass 65 % der 2919 Befragten 5G mit einem mittleren bis hohen Risiko verbinden, und nur einen geringen bis gar keinen persönlichen Nutzen in der neuen Mobilfunktechnologie sehen. Anderseits bewerteten 61 % den Nutzen für die Gesellschaft und 76 % denjenigen für die Wirtschaft jeweils als hoch. Es zeigte sich auch ein Bedarf für mehr Regulierung (74 %) und mehr Forschung (90 %). Im Falle eines nationalen Referendums hätten 52 % gegen 5G gestimmt. Faktoren, die zu einer höheren Risikobewertung führten, waren das subjektive Empfinden einer Bedrohung und elektromagnetische Hypersensibilität (EHS).

Vertrauen in die Behörden, Geschlecht (männlich), und objektives Wissen zu 5G resultierten in einer tieferen Bewertung. In der zweiten Studie (Querschnittsstudie, 1013 andere Befragte) ergaben sich gleiche Ergebnisse wie in der Ersten. Die Veröffentlichung des Berichts hatte die Meinung nicht beeinflusst. Es wurde auch ein longitudinales Feldexperiment durchgeführt, bei dem 839 Teilnehmende der ersten Studie nochmals befragt wurden. Die Teilnehmenden wurden zufällig in vier Gruppen eingeteilt, die vor der zweiten Erhebung entweder Informationsmaterial aus dem Expertenbericht erhielten (unterschiedlich detailliert), oder aber keine Unterlagen erhielten. Die Risikowahrnehmung der Befragten veränderte sich in beide Richtungen und es zeigte sich, dass blosse Aufklärung, wie in diesem Experiment, insgesamt kaum zu einer reduzierten Risikowahrnehmung zu führen scheint. Das Vertrauen in die Behörden sowie das Ausmass der wahrgenommenen Bedrohung scheinen potenziell wichtig für eine Veränderung der Risikobewertung zu sein.

Die Studie zeigt, dass diese einmalige Information einen geringen Einfluss auf die Risikoeinschätzung hat. Sie kann aber keine Aussage darüber machen, wie sich die Risikoeinschätzung in einer Gesellschaft langfristig aufgrund der Vermittlung verschiedenster Informationen, z.B. in Medien, verändert.

Weitere Publikationen zur Information (Übersichtsarbeiten)

Einfluss von elektromagnetischen Feldern auf Ionenkanäle
Basierend auf Studien, die in den Jahren 2005 bis 2020 veröffentlicht wurden, untersuchte die systematische Übersichtsarbeit von Bertagna et al. (2021) den Einfluss von EMF auf Ionenkanäle in neuronalen Zellen. Dabei wurden insgesamt 21 Studien zusammengefasst.

Gesundheitseffekte von WLAN
Die Übersichtsarbeit von Dongus et al. (2021) befasste sich mit biologischen und gesundheitlichen Auswirkungen von WLAN. Hierfür wurden systematisch Studien erfasst, die seit 1997 veröffentlicht wurden, und insgesamt 23 Studien zusammengefasst.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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