Norwegen, kein Land für "Elektrosensible" (Elektrosensibilität)
Das Folkehelseinstituttet, Oslo, dem Gesundheitsministerium unterstelltes nationales Gesundheitsamt Norwegens, berief 2010 eine 16-köpfige Expertengruppe ein, die über das Ausmaß des "Risikos Mobilfunk" befinden sollte. Im August 2012 legte die Gruppe ihren 206-seitigen Abschlussbericht vor (18-seitige Kurzfassung auf englisch). Für norwegische "Elektrosensible" muss das Papier schlimmer als ein Elektroschock gewesen sein.
Üblicherweise sehen sich "Elektrosensible" (EHS) von den Behörden ihrer Heimatländer und von der WHO unverstanden. Dies führt zu starken Vorbehalten der Betroffenen gegenüber amtlichen Stellungnahmen zum Phänomen der "Elektrosensibilität". Besonders heftige Vorbehalte gibt es in unseren Breiten gegen das Elektrosensiblen-Fact-Sheet 296 der WHO aus dem Jahr 2005. Dieses Fact-Sheet beruht auf einem WHO-Arbeitstreffen mit rd. 150 Teilnehmern, das im Oktober 2004 in Prag stattfand (WHO-Tagungsbericht). Im Vergleich zu dem Abschlussbericht der norwegischen Expertengruppe liest sich das Fact-Sheet der WHO allerdings noch ausgesprochen moderat.
Da EHS gerne zu Verschwörungstheorien neigen, habe ich vorsorglich geprüft, ob Referenten des Prager WHO-Arbeitstreffens auch Teilnehmer der norwegischen Expertengruppe waren. Dies trifft nicht zu, die Expertengruppe bestand ausnahmslos aus anderen Personen. Die folgende Passage über EHS aus der englischen Kurzfassung ihres Abschlussberichts (in deutscher Übersetzung) darf daher als von der WHO unabhängige Stellungnahme betrachtet werden. Um erst gar keinen Verdacht aufkommen zu lassen, wurde außerdem ein norwegischer EHS als Beobachter in die Expertengruppe mit aufgenommen.
1.9.2 Empfehlungen bei Gesundheitsstörungen, die auf elektromagnetische Felder zurückgeführt werden (elektromagnetische Überempfindlichkeit)
Eine Vielzahl wissenschaftlicher Studien kommt übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass die physikalischen Eigenschaften elektromagnetischer Felder (EMF) wahrscheinlich nicht die unmittelbare Ursache oder Mitursache für Gesundheitsprobleme sind, die auf EMF zurückgeführt werden (elektromagnetische Überempfindlichkeit). Die Expertengruppe ist der Ansicht, dass keine Notwendigkeit besteht, die Strahlenschutzvorschriften für Personen zu überarbeiten, die ihre Gesundheitsprobleme auf die Exposition gegenüber EMF zurückführen.
Es ist wissenschaftlich unwahrscheinlich, dass die Verringerung der EMF-Exposition für Gesundheitsprobleme von Bedeutung ist, die auf EMF zurückgeführt werden. Die Expertengruppe ist daher der Ansicht, dass es keine Grundlage für die Empfehlung von Maßnahmen zur Verringerung der Exposition gegenüber EMF gibt. Das Gesundheitswesen und andere Akteure sollten stattdessen den Abbau von Vermeidungsverhalten fördern und von der Durchführung von Maßnahmen abraten, für die es keine wissenschaftliche Grundlage gibt.
Die Expertengruppe empfiehlt nicht, "elektronikfreie" Behandlungsräume in Krankenhäusern einzurichten, sondern den betroffenen Patienten angemessene medizinische Hilfe mit Unterstützung und praktischen Maßnahmen zukommen zu lassen. Die Expertengruppe ist der Ansicht, Patienten mit dieser Art von Gesundheitsproblemen können hauptsächlich im Rahmen der primären und spezialisierten Gesundheitsdienste betreut werden. Die gesundheitlichen Probleme, die diese Menschen haben, sind echt und müssen ernst genommen werden. Allerdings ist die Kompetenz des Gesundheitswesens und der Gesundheitsverwaltung gering in Bezug auf Patienten mit Gesundheitsproblemen, die auf EMF und andere Umweltfaktoren zurückzuführen sind. Es besteht Bedarf an umweltmedizinischem Fachwissen in den Bereichen (z.B. in den regionalen Abteilungen für Arbeits- und Umweltmedizin in Krankenhäusern), die für die Bereitstellung von Wissen und Leitlinien für das Gesundheitswesen zuständig sind. Die norwegische Gesundheitsdirektion sollte dafür sorgen, dass Informationen speziell für den Gesundheitsdienst und die Betroffenen bereitgestellt werden. Ferner schlägt die Expertengruppe die Einrichtung eines neuen Sachverständigenausschusses vor, der die Literatur reviewt und umweltmedizinische Ratschläge für Managementpraktiken und die Behandlung von Patienten gibt.
Arbeitgeber sollten sicherstellen, dass Arbeitnehmer, die wegen der Exposition gegenüber EMF in ihrem Arbeitsumfeld besorgt sind, über das Risiko informiert werden. Wenn diese Informationen nicht dazu beitragen, die Bedenken zu verringern, sollte der Arbeitgeber in besonderen Fällen die Durchführung einfacher Abhilfsmaßnahmen in Betracht ziehen. Es ist wichtig, klarzustellen, dass diese Maßnahmen durchgeführt werden, um Bedenken zu zerstreuen und praktische Lösungen in einer schwierigen Situation zu finden, und nicht, weil die Exposition selbst als Gesundheitsrisiko angesehen wird.
Überrascht hat mich besonders die klare Empfehlung der Experten, "Elektrosensiblen" in Krankenhäusern keine Sonderbehandlung durch EMF-freie Behandlungsräume/Krankenzimmer zukommen zu lassen. In dieser Deutlichkeit habe ich das zuvor noch nirgendwo gelesen. Deshalb habe ich diesen Punkt etwas tiefer recherchiert und kann sagen, die Experten haben diese Empfehlung nicht aus dem Ärmel geschüttelt, sondern nach wissenschaftlichen Erwägungen getroffen. Mehr dazu demnächst in einem Folgeposting.
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– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –
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H. Lamarr,
02.01.2022, 21:48
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