Forscher schlagen neuen Fachbegriff für "Elektrosensible" vor (Elektrosensibilität)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 28.11.2021, 22:35 (vor 1120 Tagen)

Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch werden "Elektrosensible" seit etwa 20 Jahren als IEI-EMF bezeichnet (idiopathic environmental intolerance attributed to electromagnetic fields). Eine Gruppe Wissenschaftler hält die Bezeichnung "idiopathische Umweltunverträglichkeiten" jedoch für irreführend und nicht mehr zeitgemäß. Ihr Vorschlag für eine Neubenennung lautet SAEF (symptoms associated with environmental factors). Sollte sich der Vorschlag durchsetzen, wären "Elektrosensible" in Zukunft SAEF-EMF.

Die unter Laien übliche Benennung "Elektrosensible" (ES) fand seit jeher auch bei einigen Betroffenen wenig Anklang. Zu nahe war ihnen diese Benennung an der Verulkung "Elektrosensibelchen". So kam es im Laufe der vergangenen Jahre hin und wieder zu Umbenennungsversuchen, vorgeschlagen wurden anstelle von "Elektrosensibilität" z.B. Elektro-Smog-Vergiftung, Elektroallergie, EMF-Syndrom oder Feldstress. Keiner dieser Versuche hatte jedoch Erfolg, ausgerechnet Betroffene zeigten wenig Ambitionen, sich an einen neuen Begriff zu gewöhnen. Als um 2008 herum der Begriff "Elektrohypersensible" stärker aufkam griffen jedoch viele zu, besonders das Akronym EHS setzte sich schnell durch, vielleicht deshalb, weil das bis dahin gebrauchte ES angstbelastete Assoziationen zu einem Ungeheuer des Gruselautors Stephen King weckte.

Die Wissenschaftlergruppe, die 2020 für die Umbenennung von IEI in SAEF warb, zählt sieben Köpfe, darunter mit Michael Witthöft auch ein Deutscher. Warum sie für eine Umbenennung sind erläutern sie ausführlich in dem Beitrag "Symptoms associated with environmental factors” (SAEF) – Towards a paradigm shift regarding "idiopathic environmental intolerance" and related phenomena (Volltext). Anschließend die Deutsch-Übersetzung des Abstracts:

Gesundheitsstörungen, die durch Symptome gekennzeichnet sind, die mit chemischen, physikalischen und biologischen Umweltfaktoren in Verbindung gebracht werden, die nicht mit objektivierbaren pathophysiologischen Mechanismen zusammenhängen, werden häufig mit dem allgemeinen Begriff "idiopathische Umweltunverträglichkeiten" bezeichnet. Es werden auch spezifischere, expositionsbezogene Begriffe verwendet, z.B. "Multiple Chemische Sensibilitäten", "elektromagnetische Hypersensibilität" und "Candida-Überempfindlichkeit". Die Prävalenz dieser Erkrankungen schwankt je nach Definition und Bevölkerungsgruppe zwischen einigen wenigen und mehr als 50 %. Auf der Grundlage des sich entwickelnden Wissens in diesem Bereich liefern wir Argumente für einen Paradigmenwechsel von Begriffen, die sich auf Exposition und Intoleranz/(Über-)Empfindlichkeit konzentrieren, hin zu einem Begriff, der den Wahrnehmungselementen, die diesen Phänomenen zugrunde zu liegen scheinen, besser gerecht wird. Symptome, die durch etablierte pathophysiologische Mechanismen verursacht werden, sollten nicht einbezogen werden, z.B. allergische oder toxikologische Erkrankungen, Laktoseintoleranz oder Infektionen. Wir diskutieren verschiedene Alternativen für einen neuen Begriff/Konzept und schlagen schließlich einen offenen und beschreibenden Begriff vor, nämlich "Mit Umweltfaktoren assoziierte Symptome" (SAEF), einschließlich einer Definition. "Mit Umweltfaktoren assoziierte Symptome" entspricht sowohl dem aktuellen Wissensstand als auch den Erfahrungen der Betroffenen. Das vorgeschlagene Konzept ist daher geeignet, die Therapie und die Kommunikation zwischen Angehörigen der Gesundheitsberufe und den Betroffenen zu erleichtern und eine Grundlage für ein besseres Verständnis solcher Phänomene in Gesundheitswesen, Gesellschaft und Wissenschaft zu schaffen.

Bemerkenswert ist mMn, dass die Autoren auch die Prävalenzangaben und deren ungemein großen Schwankungsbreiten ansprechen. Denn diese Prävalenzangaben sind ein steter Quell der Irreführung, da Betroffene nahezu ausnahmslos dazu neigen, die höchsten Werte öffentlich zu verbreiten, denen sie habhaft werden können, egal wie wackelig die Datengrundlage ist. Auch mutwillige Uminterpretationen von Zahlenwerten sind an der Tagesordnung. Diese dienen stets dem Zweck, die kleine Gruppe der stark Betroffenen wesentlich größer erscheinen zu lassen als sie tatsächlich ist. Hier nun das, was die Autoren zur Prävalenz und deren Treffsicherheiten zu sagen haben:

[...] Die geschätzten Prävalenzraten in der Allgemeinbevölkerung für Reaktionen auf Umweltfaktoren variieren je nach Definition (z.B. ärztliche "Diagnose" vs. Selbstauskunft) und Land erheblich. Für Chemikalien liegt die Prävalenz von Reaktionen zwischen 0,5 und 52 %, für Gebäudeeinwirkungen [z.B. Sick-Building-Syndrom] zwischen 1,3 und 7 %, für EMF zwischen 0,1 und 21 % und für Geräusche [z.B. Infraschall] zwischen 8 und 39 %. [...]

Meinen Beobachtungen zufolge ist für "Elektrosensible" selbst eine Prävalenz von 0,1 Prozent viel zu hoch gegriffen, denn auf Deutschland bezogen wären dies noch immer 80'000 Personen. Lässt man Bagatell-EHS weg, die z.B. bei längeren Handytelefonaten unter einem warmen Ohr "leiden", und bezieht EHS auf Personen, die ihr Leben kompromisslos auf die Vermeidung von EMF ausgerichtet haben, dann sehe ich für Deutschland keine 300 Betroffene. Deren Prävalenz wäre also selbst mit 0,001 Prozent noch optimistisch geschätzt.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
EHS, Symptome, Wissenschaftler, Irreführung, Paradigmenwechsel, Witthöft


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