Zitatverfälschung: Wie Diagnose-Funk mit James Lin kokettiert (Allgemein)
Der Stuttgarter Anti-Mobilfunk-Verein Diagnose-Funk gibt vor, die Bevölkerung vor schädlichen EMF-Auswirkungen des Mobilfunks schützen zu wollen. Dazu beruft sich der von Laien geführte Verein notgedrungen gerne auf Bekundungen von mobilfunkkritischen Wissenschaftlern. Das ist legitim. Nicht mehr rechtens ist es, wenn der Hang der Stuttgarter zum Dramatisieren sie dazu verleitet, einen Wissenschaftler so lückenhaft zu zitieren, dass dessen Aussagen durch die Auslassung verfälscht wird. Leider hatte ich keine Zeit, diesen Fehltritt kürzer zu dokumentieren. Also: Wer's eilig hat, kann getrost bei der letzten Zwischenüberschrift einsteigen.
Der US-amerikanische Physiker James Lin war von 2004 bis 2016 Mitglied der Icnirp-Kommission, von 2008 bis 2012 leitete er zudem den ständigen Icnirp-Ausschuss III "Physik und Technik". Nach seinem Ausscheiden aus dem mächtigen Verein äußerte Lin sich zuweilen kritisch über das "Risiko Mobilfunk". Das machte ihn für Diagnose-Funk interessant. Die Stuttgarter versuchen seither, Lin als Icnirp-Überläufer ins Lager der Mobilfunkgegner darzustellen. Dazu betreiben sie Rosinenpickerei, indem sie Aussagen des emeritierten Professors nach "brauchbaren" Passagen durchflöhen. Ist etwas dabei, präsentiert Diagnose-Funk es umgehend und stets mit dem triumphierenden Hinweis, Lin sei ehemaliges Icnirp-Mitglied. Äußert sich der Physiker jedoch entgegen den hoffnungsvollen Erwartungen des Stuttgarter Vereins, findet dies bei Diagnose-Funk keinerlei Niederschlag. Mit dieser systematischen selektiven Zitierpraxis versuchen die selbsternannten Verbraucherschützer James Lin als abtrünniges Icnirp-Mitglied zu inszenieren und damit dem Ruf von Icnirp zu schaden.
Szenenwechsel
Der Schweizer Elektrosmog-Dompteur Urs Raschle bringt am 10. Oktober 2020 auf seiner Website die semantisch grenzwertige Meldung: US-Militär befürchtet, dass EMFs Piloten zum Absturz bringen (Piloten stürzen, wenn überhaupt, dann in Bars ab). Raschle hat nicht etwa selbst recherchiert, sondern die Meldung angeblich auf der Website von Dr. Joseph Mercola, abgegriffen, der, obwohl US-Amerikaner, es zu einem schicken Eintrag bei Psiram gebracht hat. Da Raschle zu bequem war, die Automatenübersetzung der Mercola-Gruselgeschichte zu redigieren, beglückt er seine Leser mit Stilblüten wie dieser: "Im Jahr 2017 starben 37 Servicemitglieder bei nicht kämpfenden Abstürzen." Auf der Website von Mercola ist der Originalartikel nicht (mehr) zu finden, hier jedoch schon.
Ein Jahr später springt Diagnose-Funk auf den Zug auf und präsentiert am 22. Oktober 2021 das gleiche Thema unter dem Titel Elektromagnetische Felder im Cockpit können Piloten schaden, befürchtet das US-Militär.
James Lin kommt wie gerufen
Im Gegensatz zu Raschle stützt sich Diagnose-Funk jedoch nicht auf den schrägen Mercola, sondern auf den seriösen Lin, der seinerseits das Thema im April 2021 aufgegriffen hat. Nachdem der obligatorische Hinweis "ehemaliges Icnirp-Mitglied" gefallen ist, zitiert Diagnose-Funk den em. Professor:
"Abgesehen von den starken Auswirkungen auf kognitive Funktionen und menschliche Gehirnströme, die bereits in der DARPA-Ankündigung erwähnt wurden, können mögliche Reaktionen abrupter und ablenkender Natur verursacht werden, auf Grund der Exposition gegenüber gepulster Hochleistungs-HF und Mikrowellenstrahlung. Im DARPA- Bericht wird erwähnt, dass die Cockpits mit RF-Signalen überflutet werden von bordseitigen Emissionen, Kommunikationsverbindungen und Navigationselektronik, einschließlich starker EM-Felder von Audio-Headsets und Helm-Tracking Technologien ... Abhängig von den spezifischen Materialien und Konstruktionen der Helme kann die RF- und Mikrowellenstrahlung in das Innere des Helms des Piloten eindringen und noch höhere RF- und EM-Felder im Kopf erzeugen. Die daraus resultierende Exposition gegenüber gepulster RF-Strahlung und der damit verbundenen Ablagerung von Mikrowellenenergie im Kopfgewebe führen zwar nicht zu einer offensichtlichen Gewebeerwärmung, kann aber empfindliche biologische Reaktionen hervorrufen."
Die Sache scheint klar zu sein, das ehemalige Icnirp-Mitglied legt nüchtern-sachlich dar, gewöhnlicher Elektrosmog im Cockpit von Kampfflugzeugen kann gut und gerne die Sinne von Piloten trüben. Eva W. aus O. in M., Flughafen-Angestellte im Ruhestand, ist von dem Diagnose-Funk-Beitrag entzückt und nimmt die Vorlage zum Anlass, ihre eigenen Erfahrungen mit gewöhnlichem Elektrosmog mit drei Anekdoten zu erzählen, die sich allerdings nicht in Kampfflugzeugen zugetragen haben, sondern in Linienzügen.
Hätte Eva W. nicht nur den Auszug von Diagnose-Funk wiedergekäut, selbstverständlich inklusive dem Hinweis auf das "ehemalige Icnirp-Mitglied" Lin, sondern sich die Mühe gemacht, den Originalartikel zu lesen, hätte sie vielleicht die Zitatverfälschung der Stuttgarter erkannt und sich ihre Anekdoten über gewöhnlichen Elektrosmog in Zügen ersparen können.
Wie drei Pünktchen eine Sachaussage verdrehen können
Die drei Pünktchen, die Diagnose-Funk unauffällig in das Lin-Zitat eingefügt hat signalisieren eine Textauslassung. Legitim ist dies nur dann, wenn dadurch eine Sachaussage nicht verfälscht wird. Eben so eine Verfälschung, sogar eine grobe, liegt im betrachteten Zitat jedoch vor. Überzeugen Sie sich selbst. Der folgende Text gibt die zitierte Textpassage ohne Auslassung im Originalwortlaut wieder. Die rot formatierte Passage kennzeichnet die Auslassung:
[...] Aside from the potential effects on cognitive functions and human brainwaves already mentioned in the DARPA announcement, there may be potential responses of a more abrupt and distractive nature resulting from exposure to high-power pulsed RF and microwave radiation.
The DARPA RFP mentions that the cockpits are flooded with RF signals from onboard emissions, communication links, and navigation electronics, including strong EM fields from audio headsets and helmet tracking technologies. It has been hypothesized that the cockpit RF and EM fields, especially the frequencies between 9 kHz and 1 GHz, may influence cognitive performance, including SD, task saturation, and misprioritization. However, RF and EM fields in cockpits are not currently monitored; little effort has been made to shield pilots from these fields, and the potential impacts of these fields on a pilot’s cognition have not been assessed.
It is reasonable to assume that fighter cockpits are subjected to strong impinging RF and/or microwave radar pulses under some operational conditions. Common characteristics of these radar pulses are high peak power (gigawatts), short pulsewidth (microseconds), and fast pulse rise time (nanoseconds). Depending on the specific materials and designs of the helmets, RF and microwave radiation could penetrate and reverberate inside a pilot’s helmet and head to generate even higher RF and EM fields within the head under these circumstances.
The resulting exposure to high-power pulsed RF radiation and associated microwave energy deposition in head tissues may not produce overt tissue heating but can elicit sensitive biological responses. [...]
Übersetzt lautet die rot markierte Textpassage, die der Verein Diagnose-Funk für unerheblich hält und deshalb seinen Lesern nicht zumuten will:
[...] Es wurde die Hypothese aufgestellt, HF- und EM-Felder im Cockpit, insbesondere mit Frequenzen zwischen 9 kHz und 1 GHz, können die kognitive Leistung [des Piloten] beeinflussen, einschließlich SD [räumliche Desorientierung], Aufgabenüberforderung und Fehlpriorisierung. Allerdings werden HF- und EM-Felder in Cockpits derzeit nicht beobachtet; es wurden wenig Anstrengungen unternommen, um Piloten gegenüber diesen Feldern zu schirmen, und die potenziellen Auswirkungen dieser Felder auf die kognitiven Fähigkeiten eines Piloten wurden nicht erforscht.
Es ist davon auszugehen, dass Cockpits von Kampfflugzeugen unter bestimmten Einsatzbedingungen starken HF- und/oder Mikrowellen-Radarimpulsen ausgesetzt sind. Gemeinsame Merkmale dieser Radarimpulse sind hohe Spitzenleistung (Gigawatt), geringe Impulsbreite (Mikrosekunden) und kurze Impulsanstiegszeit (Nanosekunden). [...]
Aus meiner Sicht ist sonnenklar: Die Textpassage ist keineswegs unerheblich, sie zeigt vielmehr, Lin hat bei seinen Überlegungen eben nicht gewöhnlichen Elektrosmog im Blick gehabt, wie Diagnose-Funk es suggerieren möchte, sondern primär starke Radarimpulse, denen Privatpersonen so gut wie nie ausgesetzt sind. Um dies zu vertuschen, musste die rot markierte Textpassage verschwinden. Mit kompetentem Verbraucherschutz hat dies mMn nichts zu tun, mit gezielter Irreführung dagegen schon.
Tatsächlich redet Lin anschließend bis zum Ende seines Artikels nur noch von Effekten, die erst durch hochenergetische EMF-Einwirkungen zustandekommen. Zu den wichtigsten Effekten zählt er das Mikrowellenhören (durch starke Mikrowellenimpulse ausgelöste akustische Druckwellen im Kopf) sowie den Schreckreflex und das motorische Reaktionsverhalten, die beide bei Labortieren beobachtet wurden. Die von Lin genannten SAR-Spitzenwerte, die zum Schreckreflex führen sind sehr hoch, sie liegen im Bereich 23 kW/kg bis 86 kW/kg. Der für die Immission des Kopfes/Rumpfes durch Mobiltelefone geltende Grenzwert für die Allgemeinbevölkerung nimmt sich mit 2 W/kg demgegenüber geradezu lächerlich niedrig aus, allerdings ist dieser Grenzwert nicht auf Immissionsspitzen bezogen, sondern zeitlich gemittelt. Da gemäß 26. BImSchV der Spitzenwert der elektrischen Feldstärke den maximal zulässigen Mittelwert (Referenzwert) jedoch nur um Faktor 28 überschreiten darf, sind für Mobiltelefone theoretisch SAR-Spitzen von 2 W/kg x 28² = 1,56 kW/kg zulässig. Theoretisch deshalb, weil Mobilfunksender eben keine Radaranlagen sind, die Signalstrukturen weichen unvereinbar voneinander ab.
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –
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