Faktencheck: Seltsame Stimmen in der 5G-Debatte (Allgemein)
In der Debatte um die Gesundheitsverträglichkeit von 5G wurde schon alles gesagt – aber noch nicht von jedem. Mit den Fingern schnippen hilft, um dran zu kommen. Und einige anspruchslose Medien werden nicht müde, Fingerschnipper aus der Mitte des Volkes auszuwählen, damit auch deren Stimme öffentlich gehört wird, sei sie noch so belanglos und unqualifiziert. Großmut ist nicht das Motiv dieser Medien, sondern falsch verstandener Pluralismus. Denn weil qualifizierte Stimmen gegen 5G so selten sind wie Eisbären in der Sahara, greifen sich verzweifelte Medienmacher notgedrungen die eifrigsten Fingerschnipper. Szenen einer Tragikomödie.
Am 26. Mai lässt die Schweizer Netzwoche ihre Leser wissen:
Es regt sich Widerstand gegen die Neuregelung der Strahlungsberechnung adaptiver Antennen. Kritiker monieren, die Grenzwerte würden de facto gelockert und die tatsächliche Strahlenbelastung lasse sich mit den heutigen Methoden nicht messen.
Soso.
Alsdann zitiert Netzwoche tatsächlich zwei sogenannte Kritiker.
► Der eine Kritiker sind die seit GSM traditionell gegen Funk verklemmten Umweltmediziner des Schweizer Vereins AefU, die sich offensichtlich schwer damit tun, den Sinn und Zweck einer mathematischen Mittelwertbildung bei intermittierend einwirkender Funkstrahlung zu verstehen.
► Der andere Kritiker ist eine Sie, heißt Rebekka Meier, ist Uhrmacherin von Beruf und vertreibt sich und anderen die Zeit als Präsidentin eines missionarisch tätigen Anti-Mobilfunk-Vereins. Fingerschnipperin Meier muss jetzt richten, wozu sich kein Schweizer Wissenschaftler hergeben will: Meckern gegen 5G. Irgendjemand muss schließlich die Gegenstimme geben, damit den Medien, den verzweifelten, der Vorwurf einseitiger Berichterstattung vorsorglich erst gar nicht gemacht werden kann. Und Frau Meier tut, was von ihr erwartet wird, sie plaudert über 5G-Risiken, wie Uhrmacherinnen dies weltweit zu tun pflegen:
Die Grenzwerte werden mit der Vollzugshilfe an Orten mit empfindlicher Nutzung wie Wohnungen nur noch pro forma eingehalten. Es könne sein, dass der Grenzwert punktuell überschritten werde. Das ist ein 'Buebetrickli' um den Grenzwert zu erhöhen.
Diese Messmethode sei unseriös, sagt Rebekka Meier. Es werde nicht die effektive Strahlung gemessen, Mobilfunkbetreiber könnten die Sendeleistung verändern und es sei unklar, ob die Angaben der Betreiber überhaupt stimmen.
Märchenhaft, wie sie das macht. Frau Meier gibt den Peter Pan und tritt wieder gegen Captain Hook an, das ist der, der keine Uhr ticken hören mag ...
Um ein bisschen Substanz in die arg fadenscheinig Story zu bringen, greift Netzwoche auf "Beobachter"-Chefredakteur Andres Büchi zurück. Der wusste schon zwei Tage nach der Veröffentlichung der 5G-Vollzugshilfe für die vermeintlich mörderischen adaptiven Antennen zu kommentieren:
[...] Fachleute stützen diesen Vorbehalt. So zeigen Messungen der Aachener Universität, dem deutschen Kompetenzzentrum für Mobilfunk, dass die im Betrieb tatsächlich ermittelten Feldstärken von den Messungen und den daraus hochgerechneten Beurteilungswerten massiv abweichen. Denn gerade bei adaptiven Antennen sei es gar nicht möglich, aussagekräftige Abnahmemessungen durchzuführen. Die Uni Aachen stellt dazu klar: «Messmethoden, die bisher für die Beurteilung der Strahlenbelastung durch 2G bis 4G-Mobilfunkanlagen angewendet werden, sind auf 5G-Anlagen nicht anwendbar, werden aber dringend gebraucht.» [...]
Das klingt dramatisch. Und wenn "Fachleute" aus Aachen dies bekunden, auch wenn sie namentlich ungenannt bleiben, wer will an solchen Autoritäten schon zweifeln?
Ich .
Allerdings nicht an den Fachleuten der RWTH Aachen, sondern an Büchis Kolportage dessen, was die Fachleute in Deutschland angeblich aufgedeckt haben. Warum präzisiert Büchi seine Originalquelle nicht, z.B. mit einem Link? Und warum schreibt er "massiv abweichen"? So eine Abweichung sagt herzlich wenig aus, denn sie kann höhere Feldstärken bedeuten, ebenso gut aber auch niedrigere. Als Technischer Redakteur erkenne ich in solchen nebligen Formulierungen Alarmstufe rot.
Für die Suche nach Büchis Quelle verwendete ich das Zitat aus obigem Textfragment. Wenn die Quelle im www zu verorten ist, müsste sie damit zu finden sein. Ist sie aber nicht. Stand 27. Mai 2021 liefert Tante Google mit dem Suchbegriff nur zwei Treffer:
► den seichten Beitrag in netzwoche.ch vom 26. Mai 2021
► Büchis Kommentar vom 25. Februar 2021
Und nun? Wo hat Büchi seine Information her? Gute Frage, nächste Frage ...
Um es kurz zu machen: Ja, die RWTH Aachen beschäftigt sich tatsächlich mit der Forschung nach fairen Verfahren, die Immission adaptiver Antennen durch Messungen und Berechnungen oder Korrekturfaktoren zu bestimmen. Ziel ist es, die tatsächliche Immission auf keinen Fall zu unterschätzen, andererseits diese aber auch nicht maßlos zu überschätzen (wie dies das Schweizer Bafu als Notlösung vor Veröffentlichung seiner 5G-Vollzugshilfe praktizierte). Eine dazu von der RWTH für Februar 2021 angekündigte Publikation steht offiziell noch immer aus, mutmaßlich handelt es sich dabei jedoch um diesen gut verständlichen Fachbeitrag (Von schwenkenden Beams und hohen Datenraten, PDF-Datum 16. Februar 2021), der Büchis dramatische Zeilen freilich in keiner Weise bestätigt. Ich habe noch weitere Quellen zum Thema bei der RWTH gefunden, doch keine davon stützt Büchis Warnung auch nur ansatzweise.
Mein Fazit dieses Faktenchecks ist das, was mir bei 5G-Recherchen vertraut wurde:
Außer Spesen nichts gewesen.
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –
Faktencheck: Wo hat Büchi seine Information her?
Und nun? Wo hat Büchi seine Information her? Gute Frage, nächste Frage ...
Eine öffentliche Nachfrage von heute beim "Beobachter" ergab: Die Quelle liegt der Redaktion als gedrucktes Dokument vor, darin die fragliche Textpassage aufzufinden sei zu aufwendig. Ja, wenn das Dokument umfangreich ist, kann ich das nachvollziehen. Des Rätsels Lösung steckt im folgenden Satz der Antwort:
Inhaltlich und im Zitat wird in der entsprechenden Passage ausgesagt, was die Forschungsstelle Mobilfunk der Uni Aachen mehrfach festgestellt hat: Für adaptive 5G-Antennen gibts - oder gabs mindestens bis vor einem Jahr - kaum eine verlässliche Messmethode, um die im Betrieb tatsächlich anfallenden Belastungswerte zu ermitteln.
Das kann man, meine ich, so gelten lassen. Denn gültig für die Schweiz hat das Metas in seinem technischen Bericht «Messmethode für 5G-NR-Basisstationen im Frequenzbereich bis zu 6 GHz» vom 18. Februar 2020 und im Nachtrag vom 15. Juni 2020 erstmals beschrieben, wie bei unterschiedlichen 5G-Antennendiagrammen auf den Beurteilungswert hochgerechnet werden kann. In der Schweiz platzte also der 5G-Messknoten Anfang 2020. Aber: Chefredakteur Büchi erweckt in seinem Kommentar vom 25. Februar 2021 den Eindruck, er rede vom aktuellen Status der 5G-Messverfahren, tatsächlich beschreibt er dort jedoch einen veralteten Status, der spätestens Anfang 2020 seine Gültigkeit verloren hat! Da ist er im Eifer des Gefechts übers Ziel hinausgeschossen. Dennoch halte ich Andres Büchi für einen integren Journalisten. Doch auch Fake-News-Setzer bedienen sich aus dem Zusammenhang gerissener veralteter (authentischer) Aussagen, um die öffentliche Meinung zum Nachteil anderer zurecht zu kneten wie dieses aktuelle Beispiel zeigt.
Wer jetzt denkt, Schweizer seien 2019/2020 möglicherweise einer unkontrolliert hohen 5G-Immission ausgesetzt gewesen, der irrt. Denn das Bafu hat bis zur Vorlage der 5G-Vollzugsempfehlungen im Februar 2021 5G-Antennen sicherheitshalber nur unter der Bedingung zugelassen, dass diese Antennen wie herkömmliche Antennen ohne Beamforming beurteilt werden. Dies war sicher, da die tatsächliche Immission adaptiver 5G-Antennen dadurch stark überschätzt und die maximale Sendeleistung folglich stark reduziert wurde. Logisch, dass die Mobilfunknetzbetreiber über diese Kastration ihrer adaptiven Antennen wenig begeistert waren und auf eine Vollzugsempfehlung drängten, die das Beamforming angemessen berücksichtigt.
Eine dazu von der RWTH für Februar 2021 angekündigte Publikation steht offiziell noch immer aus, mutmaßlich handelt es sich dabei jedoch um diesen gut verständlichen Fachbeitrag (Von schwenkenden Beams und hohen Datenraten, PDF-Datum 16. Februar 2021), der Büchis dramatische Zeilen freilich in keiner Weise bestätigt.
Kurios: Auch die Redaktion des "Beobachter" verweist in ihrer Antwort auf den verlinkten RWTH-Artikel, obwohl dieser, weil jung, Büchis dramatische (veraltete) Angaben über einen früheren 5G-Wissensstand der RWTH nicht stützt.
Auf Nachfrage bestätigte die RWTH mir heute, der verlinkte Artikel ist identisch mit dem angekündigten Artikel und wurde bereits in Ausgabe 2/2020 der "RWTH-Themen" veröffentlicht. Corona brachte den Zeitplan durcheinander, deshalb erschien diese Ausgabe verspätet erst im Februar 2021. Heißt, in der kommenden Ausgabe 1/2021 der RWTH-Themen erscheint kein weiterer Artikel über die 5G-Forschung der RWTH.
Hintergrund
170. Gigaherz: Die Unterstellungen des Hans-Ulrich Jakob (I)
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –