Neues von Berenis (24): März 2021 (Forschung)

H. Lamarr @, München, Montag, 15.03.2021, 23:42 (vor 1438 Tagen)

Im Zeitraum Anfang Mai 2020 bis Mitte Juli 2020 wurden 65 neue Publikationen identifiziert, von denen sieben von Berenis vertieft diskutiert wurden. Drei davon wurden gemäss den Auswahlkriterien als besonders relevant und somit zur Bewertung ausgewählt und werden im Folgenden gekürzt vorgestellt (ungekürzter Berenis-Newsletter).

Experimentelle Tier- und Zellstudien

Magnetorezeption im Innenohr von Tauben (Nimpf et al. 2019)
Es gibt Tierarten, die magnetische Felder wahrnehmen und zu ihrer Orientierung nutzen können. Dazu sind verschiedene Mechanismen diskutiert worden, aber es ist noch wenig bekannt, ob und wo es in diesen Tieren Zielstrukturen gibt, die statische Magnetfelder erkennen können. In der Studie von Nimpf et al. (2019) wurde untersucht, ob Tauben im Innenohr Strukturen besitzen, die statische magnetische Felder erkennen. Ziel war zu zeigen, dass bestimmte Strukturen und Zellen im Innenohr Magnetfelder unabhängig von Lichtsignalen detektieren. Magnetische Reize (150 μT, stufenweise rotierend um 360°) aktivieren Nervenzellen im hinteren Vestibularkern bei Tauben, die in Helmholtz-Spulen exponiert wurden. Diese Stimuli führen zu Spannung in einem semizirkulären Kanal, und elektrosensible Sensoren erkennen Magnetfelder durch elektromagnetische Induktion. Als Biomarker wurden neuronale Aktivitätsmarker wie das Protein C-FOS verwendet, das sehr schnell auf eine Vielzahl von Reizen anspricht. Es wurde gezeigt, dass Magnetfeldstimulation zu sogenannten "Spikes" (1,4 μV) in kanalartigen Strukturen in Zellen des Innenohrs führt und somit der Wahrnehmung von Magnetfeldern dient. Es handelt sich um einen spannungsabhängigen Kalziumkanal (Cav1.3, lange Form), der bereits bei Haien und Rochen gefunden wurde. Eine bestimmte Ausrichtung des Magnetfeldes ist notwendig für die Detektion. Neben experimentellen Untersuchungen wurden auch theoretische Berechnungen durchgeführt. Die Erkennung des Magnetfeldes konnte unabhängig von Licht-Stimuli nachgewiesen werden. [...]


Förderung der Zellalterung durch hochfrequente EMF (LTE-Signal)? (Choi et al. 2020)
In dieser Studie setzten Choi et al. (2020) ein moduliertes hochfrequentes EMF ein, über das es noch nicht allzu viele experimentelle Daten gibt. Die Autoren verwendeten ein typisches LTE-Signal [...] auf einer 1,7-GHz-Trägerfrequenz und untersuchten dessen Einfluss auf verschiedene Aspekte der Vitalität und Vermehrung von kultivierten Zellen. In ihren Experimenten wurden verschiedene Arten von Zellen unterschiedlicher Gewebe-Herkunft jeweils für 3 Tage diesem HF-EMF bei berechneten SAR-Werten von 1 W/kg und 2 W/kg ausgesetzt. Zuerst haben die Autoren festgestellt, dass, verglichen zu den Kontrollpopulationen ohne Bestrahlung, die dreitägige Exposition in Abhängigkeit der Dosis zu einer Reduktion der Zellvermehrung von ca. 10 % - 90 % führte.

Dabei waren im Allgemeinen die Effekte in Krebszellen stärker ausgeprägt als beispielsweise in Stammzellen aus dem Fettgewebe oder Fibroblasten der Haut. Des Weiteren wurde versucht, die Ursache für die beobachteten Effekte zu finden. So wurde eine Rolle von oxidativem Stress und der Bildung von ROS postuliert, da die Effekte durch Zugabe eines Neutralisators von ROS abgeschwächt werden konnten. Die Reduktion der Zellvermehrung durch die LTE-Exposition wurde gemäss den Befunden der Autoren weder durch einen schädigenden Einfluss auf das Genom noch durch das Auslösen von programmiertem Zelltod (Apoptose) verursacht, sondern durch eine Verstärkung des Zellalterungsprozesses (Seneszenz). So wurde in den exponierten Kulturen ein höherer Anteil von Zellen mit Biomarkern für Seneszenz gefunden, einhergehend mit einer Verlangsamung des Zellzyklus.

Dass sich eine Exposition mit einem HF-EMF auf den Zellalterungsprozess auswirken könnte, wurde bis anhin in wissenschaftlichen Studien selten erwähnt beziehungsweise untersucht. Insofern sind die konsistenten beobachteten Effekte in verschiedenen Zellarten in dieser methodisch ansprechenden und biologisch durchdachten Studie von Choi et al. (2020) bemerkenswert. Zu beachten gilt aber, dass ein neues und kaum validiertes Expositionsgerät eingesetzt wurde, dass zwar eine gute Temperaturkontrolle erlaubt, jedoch Fragen bezüglich der Feldhomogenität offenlässt und möglicherweise eine Unterschätzung der berechneten SAR-Werte stattgefunden hatte. [...]

Epidemiologische Studien

Hochfrequente elektromagnetische Felder und Gehirnvolumen bei Kindern im Vorpubertätsalter (Cabré-Riera et al. 2020)
In der niederländischen Generation-R-Studie wurde bei 2'592 Kindern im Alter von neun bis zwölf Jahren untersucht, ob es einen Zusammenhang zwischen der HF-EMF-Exposition und dem Volumen von verschiedenen Gehirnarealen gibt. Das Gehirnvolumen aller Studienteilnehmenden wurde zwischen 2013 und 2015 mittels Magnetresonanz-Tomographie (MRI) bestimmt. Die Nutzung von drahtlosen Kommunikationsgeräten (Mobil- und Schnurlostelefone, sowie Gebrauch von Tablets und Laptops mittels WLAN) wurde von den Eltern erfragt. Exposition durch Rundfunksender und Mobiltelefonbasisstationen wurde für den Schul- und Wohnort modelliert. Die Exposition an anderen Orten wurde anhand von persönlichen HF-EMF-Messungen in einer Stichprobe von 56 Kindern abgeschätzt. Basierend auf all diesen Expositionsinformationen wurde die absorbierte HF-EMF-Dosis für verschiedene Gehirnareale berechnet. Die statistischen Analysen wurden für eine Vielzahl von möglichen Störgrössen korrigiert (z.B. mütterliche Bildung und Rauchverhalten oder BMI und Intelligenzquotienten des Kindes). Der Medianwert der täglichen EMF-Dosis des Gehirns betrug 84.3 mJ/kg. Davon stammten 62 % von Mobil- und Schnurlostelefonanrufen, 17 % von Bildschirmaktivitäten mit mobilen Geräten und 21 % von Fernfeldquellen (Mobilfunk- und DECT-Basisstationen, Rundfunksender, WLAN-Zugangspunkte). Das Volumen aller untersuchten Gehirnareale war weder mit der gesamten absorbierten EMF-Dosis noch mit derjenigen von Fernfeldquellen assoziiert.

Hingegen war die EMF-Dosis durch Bildschirmaktivitäten signifikant mit einem kleineren Volumen des Frontallappens und des Nucleus caudatus assoziiert. Die Autoren schliessen daraus, dass nicht EMF, aber möglicherweise andere Faktoren, welche mit intensiver Bildschirmnutzung zusammenhängen, einen Effekt auf diese Gehirnareale haben könnten. Störfaktoren (Confounding), Zufall oder umgekehrte Kausalität könnten aber als alternative Erklärungen nicht ausgeschlossen werden. [...]

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

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