Neues von Berenis (23): Dezember 2020 (Forschung)

H. Lamarr @, München, Montag, 14.12.2020, 00:04 (vor 1440 Tagen)

Im Zeitraum Mitte Januar 2020 bis Ende April 2020 wurden 91 neue Publikationen identifiziert, von denen zwölf von Berenis vertieft diskutiert wurden. Sechs davon sind gemäß den Auswahlkriterien besonders relevant, sie wurden zur Bewertung ausgewählt.

Experimentelle Tier- und Zellstudien

Modulierte hochfrequente EMF und der Einfluss auf das Genom (Schuermann et al. 2020)
In der in vitro Studie von Schuermann et al. (2020) wird der Einfluss von modulierten HF-EMF-Signalen, die in Funk-Kommunikationssystemen zum Einsatz kommen, auf Schädigung und Reparatur der DNS systematisch untersucht. Verwendet wurden in erster Linie primäre humane Lungenfibroblasten und eine Trophoblasten-Zelllinie, die in Intervallen (5/10 min an/aus) mit verschiedenen Modulationen einer 1.95-GHz-Trägerfrequenz (GSM/2G, UMTS/3G, WiFi, RFID/«Funketikett») bei 0.5, 2 und 4.9 W/kg SAR exponiert wurden. Die Schädigung der DNS wurde mittels Kometenanalyse nach 1, 4 und 24 Stunden Exposition analysiert, wobei bei keiner dieser Bedingungen ein signifikanter Anstieg beobachtet wurde. Dabei wurden Schlüsselexperimente unabhängig in zwei Forschungsgruppen durchgeführt, um Nebeneinflüsse zu vermeiden. Im Rahmen dieser Untersuchungen konnten ältere positive Befunde der REFLEX-Studie und einer anderen Studie (DNS-Schäden durch ein GSM-Signal), die der Auslöser und Ausgangspunkt für diese Studie waren, nicht bestätigt werden beziehungsweise nicht schlüssig wiederholt werden. Um die Nachweisschwelle der Kometenanalyse zu reduzieren, wurden auch experimentelle Ansätze angewandt, die oxidative und andere Arten nicht-reparierter DNS-Schäden sichtbar machen. Da Schäden an der Erbsubstanz auch durch einen Einfluss der HF-EMF-Exposition auf die DNS-Reparatur- und Vervielfältigungsmechanismen entstehen könnten, wurden diese auch punktuell untersucht, ohne aber signifikante und reproduzierbare Unterschiede festzustellen. Einzig wenn die Fibroblasten-Zellen für eine Stunde gleichzeitig einem UMTS-Signal (SAR 4.9 W/kg) und einer bekannten DNS-schädigenden und dadurch krebserregenden Substanz (Ethylmethansulfonat - EMS) ausgesetzt waren, wurden in der Kombination beider Faktoren signifikant höhere DNS-Schäden festgestellt. Dieser Effekt war nicht feststellbar, wenn die HF-EMF-Exposition vorgängig und länger als die EMS-Behandlung war. [...] Da keine Hinweise auf Effekte oberhalb der Nachweisschwellen der experimentellen Ansätze für eine Vielzahl getesteter Expositionsbedingungen gefunden wurden, schlussfolgern die Autoren aus ihren Daten, dass es unwahrscheinlich ist, dass es durch die HF-EMF-Signale zu einer direkten oder indirekten Schädigung der Erbsubstanz kommt. [...]

Langzeitexposition mit hochfrequenten elektromagnetischen Feldern bei Ratten und Wirkungen auf oxidativen Stress, DNS-Schädigung im Gehirn und Gedächtnisleistung (Sharma et al. 2020)
Männliche Ratten des Inzucht-Stammes Wistar wurden 90 Tage lang für 1, 2 oder 4 Stunden pro Tag exponiert (900 MHz, durchschnittliche SAR im Gehirn: 0.231 W/kg). Die Studie wurde unter kontrollierten Bedingungen (Temperatur, Klima, Licht) durchgeführt. SAR-Werte wurden von der elektrischen Feldstärke in einem Meter Distanz abgeschätzt. Neben verschiedenen Untersuchungen zu oxidativem Stress und Acetylcholinesterase (einem Enzym, das an der neuronalen Übertragung beteiligt ist) wurden auch kognitive Funktionen (Geschwindigkeit und Effizienz, die Belohnung oder das Futter zu finden) nach HF-EMF- oder Schein-Exposition untersucht. Nach HF-EMF-Exposition waren deutliche kognitive Defizite erkennbar, die mit längerer täglicher Expositionsdauer anstiegen. Die Enzyme Catalase und Superoxid-Dismutase, welche oxidativem Stress entgegensteuern, waren expositionszeitabhängig signifikant reduziert, während die Lipidperoxidation (oxidative Degradation von Lipiden, die zur Zellmembranschädigung und somit zur Zellschädigung führen kann) zeitabhängig anstieg; der höchste Wert wurde nach 4-stündiger Exposition pro Tag erreicht. [...] Die Autoren führen die [...] verminderte Gedächtnisleistung der HF-EMF-exponierten Ratten auf vermehrten oxidativen Stress zurück. [...]

Experimentelle Humanstudien

Schlafen neben einem Router: keine schlafstörenden Auswirkungen von Wi-Fi-Exposition (Danker-Hopfe et al. 2020)
In der Öffentlichkeit wird immer wieder die Sorge geäussert, dass nächtliche Wi-Fi-Exposition durch WLAN-Router zu Schlafstörungen führt. Die Studie von Danker-Hopfe et al. (2020) ist eine erste experimentelle Studie an Menschen, welche die Auswirkungen von einem während der ganzen Nacht emittierenden Wi-Fi-Router auf den Schlaf untersucht hat. An der Studie nahmen 34 gesunde junge Männer im Alter von 20-30 Jahren teil, die während des Schlafs einer Wi-Fi- (2.45 GHz) oder Scheinexposition ausgesetzt wurden. Auf eine Kontrollnacht folgte jeweils eine Nacht mit Real- oder Scheinexposition, und das Ganze wurde nach einer Woche mit der anderen Bedingung wiederholt (doppelblind und randomisiert). Die Exposition bestand aus einem Wi-Fi-Signal, wobei sich Datenverkehr unterschiedlicher Intensität mit Suchfunk ohne Datenverkehr («beacon only») abwechselte. Die maximale lokale SAR war <25 mW/kg und der zeitliche Mittelwert über 6 Minuten lag bei 6.4 mW/kg. Dies entspricht einer eher starken Wi-Fi-Exposition, ist aber in einer häuslichen Umgebung immer noch realistisch. Subjektive und objektive Schlafparameter wurden durch eine Ganznacht-Wi-Fi-Exposition nicht beeinflusst. Auch die Aufwachreaktionen (Arousals) unterschieden sich nicht zwischen den beiden Expositionsbedingungen. Lediglich in der 2. Nachthälfte war der Anteil vom Non-REM-Schlafstadium 1 (leichter Schlaf) leicht erhöht. [...]

Epidemiologische Studien

Hirntumoren und Distanz zu Hochspannungsleitungen am Wohnort (Carles et al. 2020)
Im Rahmen der französischen Cerenat-Fall-Kontroll-Studie wurde untersucht, ob Personen mit Wohnort in der Nähe einer Hochspannungsleitung öfters an einem Hirntumor erkranken. Es wurden 273 Glioma- und 217 Meningiomapatienten, welche zwischen 2004 und 2006 in Frankreich diagnostiziert wurden, eingeschlossen (Teilnahmerate: 73%). Insgesamt 980 Kontrollpersonen (Teilnahmerate: 45%) wurden zufällig aus Wahlregistern ausgewählt. Für die Bestimmung der Exposition wurde die geokodierte Distanz zur nächsten Hochspannungsleitung (<45 kV bis 400 kV) verwendet, wobei keine Unterscheidung zwischen Freileitungen und Kabeln gemacht wurde. Es wurde sowohl die Dauer der Exposition (kumulative Wohnsitzzeit) in einem 50-Meter-Korridor um Hochspannungsleitungen berechnet sowie ein Expositionskorridor festgelegt, in dem die Exposition höher als 0.3 μT sein könnte (für 63 kV: 60 m; für 90 kV: 80 m [...]). Bei der Datenanalyse wurden verschiedene mögliche Risikofaktoren berücksichtigt (Geschlecht, Alter, Bildung, Tabak- und Alkoholkonsum, Pestizidexposition, häusliche Magnetfeldexposition und Mobiltelefongebrauch). Acht Prozent der Studienteilnehmenden lebten zumindest einmal in einem 0.3-μT-Expositionskorridor, und fünf Prozent innerhalb von 50 m von einer Hochspannungsleitung. Die verschiedenen Analysen deuten mehrheitlich auf einen Zusammenhang zwischen niederfrequenter Magnetfeldexposition und dem Auftreten von Hirntumoren hin, wobei die Anzahl exponierter Fälle klein ist und die Risikoschätzer eine grosse Unsicherheit (Konfidenzintervall, KI) aufweisen. Zum Beispiel war das Risiko für einen Hirntumor für Personen, welche mehr als 15 Jahre in der Nähe von einer Hochspannungsleitung wohnten, basierend auf 7 Patienten 4.33-fach erhöht (Konfidenzintervall: 1.11–16.9). Grundsätzlich ist Distanz zur Hochspannungsleitung ein geeignetes Expositionsmass, wie in der kürzlich publizierten Analyse von Amoon et al. (2020) gezeigt wurde. [...]

Handynutzung und selbstberichtete Schlafqualität in der COSMOS Studie (Tettamanti et al. 2020)
Im Newsletter Nr. 20 wurden erste Ergebnisse der Cosmos-Kohortenstudie zu Mobiltelefonnutzung und dem Auftreten von Kopfschmerzen, Tinnitus und Hörverlust vorgestellt (Auvinen et al. 2019)9. In einer zweiten Publikation wurden nun mögliche Zusammenhänge zwischen Mobiltelefonnutzung und selbstberichteter Schlafqualität untersucht (Tettamanti et al. 2020). Wiederum wurden Daten von über 24'000 Teilnehmenden aus Schweden und Finnland in die Analyse eingeschlossen. Dabei wurden Daten zur Mobiltelefonnutzung bereits zu Beginn der Studie mittels Fragebogen erfasst. Zusätzlich wurden bei Studienbeginn während drei Monaten objektive Daten zur Gesprächsdauer auf dem GSM-(2G-) und UMTS-(3G-)Netz von den Mobilfunkanbietern gesammelt. Am Anfang der Studie und vier Jahre später füllten die Studienteilnehmer einen Schlaffragebogen aus zu Schlafstörungen, adäquater Schlafdauer, Tagesschläfrigkeit, Einschlafzeit und Schlaflosigkeit. Die Teilnehmergruppe mit den längsten Gesprächszeiten (>258 Minuten/Woche) hatte ein höheres Risiko für Schlaflosigkeit als Wenig-Telefonierende. [...] Dass der Zusammenhang mit Schlaflosigkeit eher mit der Nutzungsdauer als mit der Höhe der Strahlungsemissionen korrelierte, spricht laut Autoren dafür, dass andere Faktoren als HF-EMF für den beobachteten Zusammenhang relevant sein könnten. [...]

Dosimetrische Studien

Hochfrequente elektromagnetische Felder und Honigbienen (Thielens et al. 2020)
In ihrer Studie untersuchen Thielens et al. (2020) mittels numerischer Simulationen die Absorption von HF-EMF in Honigbienen. Der betrachtete Frequenzbereich lag zwischen 600 MHz und 120 GHz. Fünf verschiedene Modelle von Honigbienen, zwei Arbeiterbienen, eine Drohne, eine Larve und eine Königin wurden mittels Mikro-CT-Bildern erzeugt. Dabei wurden die Umrisse der verschiedenen Bienen segmentiert. Die Simulationen wurden mit Messungen in der Nähe von Bienenstöcken in Belgien kombiniert, um eine möglichst realistische Abschätzung der Exposition und der absorbierten Leistung in Honigbienen zu berechnen. Die grösste Zunahme der absorbierten Leistung in den verschiedenen Bienenmodellen ist zwischen 600 MHz und 6 GHz. Bei höheren Frequenzen sinkt die absorbierte Leistung wieder leicht ab. Der Unterschied in der absorbierten Leistung kann bei den Modellen abhängig von den Absorptionsquerschnitten zwischen 600 MHz und 6 GHz einen Faktor zwischen 16 und 121 betragen. Der Wert der absorbierten Leistung bewegt sich für 1 V/m elektrischer Feldstärke zwischen nW-Bereich bei 600 MHz bis zu Bruchteilen von μW bei 6 GHz. In der Nähe der Bienenstöcke wurden Feldstärken zwischen 0.016 und 0.2 V/m gemessen. [...] Die Autoren weisen selber auf verschiedene Limitierungen dieser ersten Studie zur Mobilfunkstrahlenabsorption bei Bienen hin. [...]

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Gliom, Schlafstörung, Bienen, Fibroblasten, Oxidativer Stress, COSMOS, BERENIS, DNS, Kometen


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