"Keulenstatistischer Faktor für 5G": Schweizer Dynamit (Technik)
Die Kantone der Schweiz warten seit Monaten ungeduldig auf die Vollzugshilfe des Bundes, die ihnen die Bewilligung von 5G-Bauvorhaben erleichtern soll. Das Papier wird, sobald es erschienen ist, zu einem Aufschrei Schweizer Mobilfunkgegner führen. Sie werden den Bundesrat und die amtierende Bundespräsidentin Sommaruga wütend des Wortbruchs beschuldigen. Doch wer die Zeichen der Zeit richtig deuten kann, weiß: Die Schweizer Regierung fährt nur einen Fahrplan ab, der seit Mitte 2019 öffentlich dokumentiert ist, dessen Bedeutung die Anti-Mobilfunk-Szene des Landes bislang jedoch größtenteils nicht begriffen hat.
Die Lunte an der Dynamitladung, die demnächst in der Schweiz hoch gehen wird, zündete die Schweizer Regierung mit einer Novelle der NIS-Verordnung schon am 17. April 2019 an. Sie fügte der NISV eine Rechtsgrundlage hinzu, welche die "sachgerechte Beurteilung" sogenannter adaptiver Antennen mit Beamforming ermöglicht. Seit 1. Juni 2019 heißt es daher in der NISV unter Ziffer 63 Massgebender Betriebszustand:
Als massgebender Betriebszustand gilt der maximale Gesprächs- und Datenverkehr bei maximaler Sendeleistung; bei adaptiven Antennen wird die Variabilität der Senderichtungen und der Antennendiagramme berücksichtigt.
Weil das noch ziemlich abstrakt ist, heißt es in den Erläuterungen der Änderungen etwas konkreter:
[...] Adaptive Antennen haben sowohl Vorteile für die Mobilfunkversorgung als auch für Belastung der Bevölkerung durch NIS. Damit die Einführung von adaptiven Antennen nicht behindert wird, soll deshalb bei der Definition des für eine Beurteilung der Strahlung in der Umgebung der Mobilfunkanlagen massgebenden Betriebszustands den verschiedenen möglichen räumlichen Ausprägungen des Antennendiagramms Rechnung getragen werden. Hierzu wird in der Verordnung ein Grundsatz festgelegt. Die konkrete Ausgestaltung des Grundsatzes ist angesichts der Dynamik der Entwicklung der Antennentechnik auf Stufe Vollzugshilfe sachgerecht. [...]
Der Clou dieses Absatzes steckt nicht in der Aussage, den "verschiedenen möglichen räumlichen Ausprägungen des Antennendiagramms" werde Rechnung getragen, sondern darin, dass dies gemacht wird, damit die Einführung von adaptiven Antennen nicht behindert wird. Heißt im Klartext: Der Regierung war von Anfang an klar, eine Lockerung der Anlagegrenzwerte zugunsten adaptiver Antennen würde landesweit Proteste zur Folge haben und die Einführung von 5G behindern. Deshalb entschied sie sich für die öffentlich weitaus weniger angefeindete Alternativlösung, die Variabilität der Senderichtung adaptiver Antennen in die Bewertung des maßgebenden Betriebszustands einfließen zu lassen, um 5G – trotz Beibehaltung der strengen Anlagegrenzwerte – in der Schweiz durchzusetzen.
Richtstrahl statt Gießkanne
In der "Variabilität der Senderichtung" verbirgt sich der Sprengstoff. Um dies zu verstehen eine kurze Erläuterung. Alle bisherigen Mobilfunkantennen strahlen (vereinfacht gesagt) rund um die Uhr gleichmäßig in alle Himmelsrichtungen. Nicht so adaptive Antennen. Deren Strahlungskegel kann man sich wie die variablen Spotscheinwerfer bei Event-Veranstaltungen vorstellen: Stark gebündelte Funkstrahlen folgen telefonierenden Personen oder Menschengruppen auf der Straße, nicht etwa mechanisch gesteuert, sondern rein elektronisch. Es liegt auf der Hand, die Immissionscharakteristik solcher Antennen unterscheidet sich grundlegend von herkömmlichen Mobilfunkantennen, denn innerhalb eines Funkstrahls ist die Immission hoch, außerhalb ist sie niedrig. Mit statistischen Analysen lässt sich nun die Wahrscheinlichkeit berechnen, mit der auch unbeteiligte Personen mal stark, mal schwach befeldet werden. Und dies bedeutet, weil EMF-Grenzwerte weltweit als Effektivwerte definiert sind, dass weder stärkste noch schwächste Befeldung zur Einhaltung der Grenzwerte herangezogen werden darf, sondern ein Mittelwert aus Beiden. Und genau da liegt der Hund begraben, denn wegen der Mittelwertbildung dürfen adaptive Antennen einen Grenzwert befristet überschreiten, wenn dafür gesorgt ist, dass sie den Grenzwert anschließend mindestens im selben Maße unterschreiten. Um wie viel adaptive Antennen einen Grenzwert befristet überschreiten dürfen regelt momentan jedes Land in Eigenregie mit der Festsetzung eines "Reduktionsfaktors".
Was bedeutet der Reduktionsfaktor für die Immission?
Der Reduktionsfaktor benennt den Wert, um wie viel ein Mobilfunknetzbetreiber zur Berechnung der maximalen Immission an einem exponierten Ort (z.B. Omen) die tatsächliche Sendeleistung rechnerisch reduzieren darf, um den zeitlich und räumlich stark schwankenden Immissionen adaptiver Antennen Rechnung zu tragen (es gibt auch anderslautende, sinngemäß jedoch gleiche Definitionen). In Frankreich z.B. schlägt die Nationale Funknetzagentur ANFR einen Reduktionsfaktor von 22 vor (13,5 dB). Sie geht davon aus, dass in einem 6-Minuten-Zeitintervall ein Immissionsort nur während 4,4 Prozent des Zeitintervalls im Zentrum des Funkstrahls ist, also mit voller Sendeleistung befeldet wird, die übrige Zeit hingegen nicht. Befindet sich ein Immissionsort nicht im Freien, sondern hinter Mauern, z.B. in Wohnräumen, erhöht ANFR den Reduktionsfaktor um weitere 2 dB (Dämpfung durch Einfachverglasung). Dies bedeutet: In Frankreich darf die gemessene Feldstärke an einem Immissionsort den zulässigen Grenzwert kurzzeitig um maximal Faktor 6 überschreiten. Auf die Schweiz bezogen würde dies bedeuten, der mittlere Anlagegrenzwert von 5 V/m dürfte kurzzeitig bis maximal 30 V/m überschritten werden.
Schweizer Mobilfunknetzbetreiber haben jedoch bereits angekündigt, sie würden sich mit einem Reduktionsfaktor von 10 (10 dB) für die Sendeleistung begnügen, was ein Überschreiten des mittleren Anlagegrenzwerts auf maximal 16 V/m bedeutet. Dieser Wert läge noch immer deutlich unter dem in anderen Ländern gültigen Immissionsgrenzwert von bis zu 61 V/m.
Metas' Übergangslösung: keulenstatistischer Faktor = 1
Welchen Wert der Reduktionsfaktor in der Schweiz tatsächlich haben wird, ist gegenwärtig noch nicht bekannt. Dass die Behörden dort an dem Wert tüfteln ist hingegen seit spätestens Februar 2020 ein offenes Geheimnis. Denn seinerzeit publizierte das Eidgenössische Institut für Metrologie (Metas) einen Technischen Bericht, der klar zeigt, wohin der Hase in der Schweiz laufen wird. Der Reduktionsfaktor ist dort umfassender definiert und wird aus mehreren Faktoren gebildet. Was ich hier Reduktionsfaktor nenne, heißt in dem Bericht "keulenstatistischer Faktor".
Da dieser Faktor erst noch beziffert werden muss, die Netzbetreiber jedoch bereits adaptive 5G-Antennen betreiben, hat das Metas ihm vorläufig den Wert 1 zugeordnet. Dies bedeutet: Adaptive Antennen werden bis zur Festlegung des keulenstatistischen Faktors in der Schweiz wie herkömmliche Mobilfunkantennen behandelt. Damit ist der ungünstigste Fall abgedeckt, dass nämlich der Funkstrahl einer adaptiven Antenne nicht herumtanzt, sondern dauerhaft unbeweglich auf den nächstgelegenen Omen ausgerichtet ist. Damit sind eine NISV-konforme Zulassung und der Betrieb adaptiver Antennen immissionsrechtlich zulässig, technisch ist das Potenzial dieser Antennen jedoch kastriert worden. Dennoch wird auch diese restriktive Übergangsregelung von der Schweizer Anti-Mobilfunkszene beklagt und mit Scheinargumenten angegriffen. Gigaherz-Präsiden Hans-U. Jakob kennt das Metas-Dokument seit spätestens 11. November 2020, schreckte wegen "mathematischen und physikalischen Abhandlungen und Duzende[n] von Formeln" jedoch davor zurück, es zu lesen. Der keulenstatistische Faktor, der ihn hätte aufschrecken müssen, ist ihm deshalb entgangen. Erst nachdem das IZgMF postete EMF-Reduktionsfaktor: Die Schweiz sitzt auf einem Pulverfass wurde auch er aufmerksam, hat die Brisanz des Themas und die wahren Zusammenhänge jedoch noch immer nicht erkannt.
Journalisten und Mobilfunkgegner auf falscher Spur
Offensichtlich haben in der Schweiz weder Journalisten noch Mobilfunkgegner einen Blick in die Erläuterungen zur Änderung der NISV geworfen oder in den technisch anspruchsvollen Metas-Bericht. Beide Gruppen waren und sind voll darauf fixiert, zu beobachten, was die Regierung mit den Anlagegrenzwerten vorhat. Gebannt warteten alle auf den Bericht der EMF-Arbeitsgruppe, die am 20. September 2018 von der damaligen Bundesrätin Doris Leuthard ins Leben gerufen wurde, um Vorschläge auszuarbeiten, wie 5G in der Schweiz realisiert werden könnte. Nachdem der Bericht am 28. November 2019 endlich vorgelegt wurde, konzentrierte sich das Interesse darauf, für welchen der Vorschläge sich die Schweizer Regierung entscheiden wird.
In den Medien und unter Mobilfunkgegnern wurden die Vorschläge bevorzugt darauf reduziert, ob die Anlagegrenzwerte gelockert werden oder nicht. Keiner hatte das aufschlussreiche Menetekel aus der Erläuterung zur Änderung der NISV im Kopf, das ich oben rot markiert habe. Es folgten Monate der Ungewissheit. Erst am 22. April 2020 legte der Bundesrat die Karten auf den Tisch und gab kund, die Anlagegrenzwerte zurzeit nicht lockern zu wollen. Mobilfunkgegner fielen reihenweise und hocherfreut auf dieses Bauernopfer herein (Beispiel), den begleitenden "Warnhinweis" der Regierung registrierten sie zwar, erkannten dessen Bedeutung (Reduktionsfaktor) jedoch ebenso wenig wie beispielsweise der Hauseigentümerverband (HEV) der Schweiz. Der "Warnhinweis lautet:
Um Transparenz zu schaffen, wie stark die Bevölkerung durch adaptive Antennen tatsächlich belastet wird, sind zunächst Testmessungen notwendig. Gestützt auf die Ergebnisse der Testmessungen wird das UVEK die Vollzugshilfe erarbeiten. Bis diese vorliegt, sind adaptive Antennen wie konventionelle Antennen zu beurteilen.
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –
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- "Keulenstatistischer Faktor für 5G": Schweizer Dynamit -
H. Lamarr,
13.12.2020, 16:26
- "Keulenstatistischer Faktor für 5G": Schweizer Dynamit - H. Lamarr, 13.12.2020, 20:21