Neues von Berenis (21): Juni 2020 (Forschung)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 05.07.2020, 19:45 (vor 1620 Tagen)

Im Zeitraum Anfang August bis Ende Oktober 2019 wurden 84 neue Publikationen identifiziert, von denen acht von Berenis vertieft diskutiert wurden. Drei davon wurden gemäß den Auswahlkriterien als besonders relevant und somit zur Bewertung ausgewählt.

Eine der ausgewählten Studien fand DNA-Schäden bei stark befeldeten Ratten, eine andere berichtet über weniger freigesetzte Neurotransmitter bei befeldeten Ratten, was sich auch in einer schlechteren Orientierung der Tiere bestätigte und eine Metastudie unterzog 28 EHS-Studien ganz im Sinne von "Elektrosensiblen" einer «Risk of bias»-Evaluierung. Des Weiteren berichtet dieser Newsletter über Stellungnahmen französischer Behörden zu Themen, die auch Mobilfunkgegner umtreiben.

Experimentelle Tier- und Zellstudien

Hinweise für eine Schädigung des Erbmaterials durch Mobilfunk-Exposition? (Smith-Roe et al. 2019)
Die Publikation von Smith-Roe et al. (2019) beschreibt die gentoxikologischen Analysen von Gewebeproben, die im Rahmen des lebenslangen Bioassays (Lebenszeitstudie) des “U.S. National Toxicology Program“ (NTP) im Auftrag der „U.S. Food and Drug Administration“ (FDA) bezüglich Krebsentstehung von HF-EMF durchgeführt wurden (siehe BERENIS Newsletter – Sonderausgabe November 2018). Dabei wurde die Schädigung der DNS in drei Hirnregionen (Hippocampus, Stirnhirn, Kleinhirn), der Leber und in weissen Blutzellen (Leukozyten) mittels Kometen-Analyse untersucht. Im Weiteren wurde überprüft, ob Anzeichen für Chromosomen-Schädigungen in roten Blutzellen (Vorstufe und ausgereifte Erythrozyten) vorhanden sind. Dies wurde mittels Analyse der sogenannten Mikrokerne, die durch fehlerhafte Reparaturereignisse und/oder Probleme bei der Replikation der DNS entstehen, evaluiert. Entsprechend des Protokolls der NTP-Studie wurden die Tiere ab dem 5. Tag nach Zeugung mit GSM (2G)- oder CDMA (3G)-modulierten Signalen (Ratten: 900 MHz; Mäuse: 1900 MHz) in 10-Minuten-Intervallen (10 min an, 10 min aus) für 18 Stunden pro Tag und sieben Tage pro Woche exponiert, was einer täglichen kumulativen Exposition von 9 Stunden und 10 Minuten entspricht. Nach 19 Wochen (bei Ratten) beziehungsweise 14 Wochen (bei Mäusen) Exposition wurden Gewebeproben entnommen und eingefroren. Für jede Expositionsbedingung (Ratten: Ganzkörper-SAR-Werte 1.5, 3 oder 6 W/kg; Mäuse: Ganzkörper-SAR-Werte 2.5, 5 oder 10 W/kg), jedes Geschlecht und jede Art wurden 5 Tiere in der Kometen-Analyse eingeschlossen, sodass DNS-Schäden von insgesamt 800 Gewebeproben in der Auswertung berücksichtigt wurden. Als eindeutiger Hinweis für erhöhte DNS-Schädigung wurde bewertet, wenn einerseits eine Dosis-Effekt-Abhängigkeit und andererseits ein Unterschied zu Kontrolltieren mit statistischer Signifikanz (p-Wert ≤ 0.025) festgestellt wurde. Diese Kriterien wurden bei der höchsten Dosis (6 W/kg) im Hippocampus männlicher Ratten, in Proben des Stirnhirns von männlichen Mäusen nach Exposition mit beiden Signalmodulationen (10 W/kg), sowie in den Leukozyten von weiblichen Mäusen erfüllt. Zudem wurden teilweise als „zweifelhaft“ eingestufte Hinweise in anderen Expositionsgruppen gefunden. Demgegenüber wurden in keiner Expositionsgruppe Hinweise auf chromosomale Schädigungen im Mikrokern-Test gefunden. [...]

Hochfrequente elektromagnetische Felder und Neuronen des Hypothalamus bei Mäusen (Kim et al. 2019)
In dieser Studie wurden die Effekte von HF-EMF (835 MHz, unmoduliert, 4 W/kg) auf Neuronen des Hypothalamus bei C57BL/6-Mäusen untersucht. Die Mäuse wurden für 5 Stunden pro Tag über einen Zeitraum von 12 Wochen exponiert. Aussagen über eine Scheinexposition der Kontrollgruppe sind im Manuskript nicht angegeben. Für eine Signalübertragung zwischen Nervenzellen werden aus der Präsynapse bestimmte Neurotransmitter in Vesikeln gebildet und gespeichert. Diese Vesikel gelangen dann zur Ausschüttung an den präsynaptischen Enden, wo die Neurotransmitter dann an der Postsynapse an Rezeptoren binden und so einen Effekt hervorrufen. [...] Methodisch wurden elektronenmikroskopische Analysen, Proteinexpression und Genexpression verwendet. Nach HF-EMF-Exposition waren in den Neuronen des Hypothalamus die Anzahl und die Grösse der synaptischen Vesikel, sowie die Expression der beiden Regulatoren der Aktivität der synaptischen Vesikel und des Kalziumkanals signifikant vermindert. Diese Untersuchungen weisen darauf hin, dass nach HF-EMF-Exposition der Zellen weniger Neurotransmitter an der Präsynapse freigesetzt werden. Die Autoren haben ausserdem die Körpertemperatur und das Körpergewicht der Tiere gemessen und keine Veränderungen festgestellt. Zudem wurde ein Orientierungstest durchgeführt, bei dem die Tiere versteckte Futterstücke finden mussten. Die Ergebnisse dieser Tests zeigten eine verminderte Fähigkeit der Tiere, diese Futterstücke zu finden, was die Untersuchungsergebnisse im Gewebe unterstützt.

Übersichtsarbeiten

Systematische Übersichtsarbeit zu methodischen Einschränkungen bei Studien zu
elektromagnetischer Hypersensibilität (Schmiedchen et al. 2019)

Aus wissenschaftlicher Sicht bestehen viele Unklarheiten hinsichtlich elektromagnetischer Hypersensibilität (EHS). Während zahlreiche Personen angeben, aufgrund von EMF-Exposition unter gesundheitlichen Beschwerden zu leiden, haben viele zu diesem Thema durchgeführte experimentelle Studien keinen kausalen Zusammenhang mit EMF feststellen können. Die systematische Übersichtsarbeit von Schmiedchen et al. (2019) befasste sich mit den bereits zu dieser Fragestellung veröffentlichten experimentell durchgeführten verblindeten Studien an Freiwilligen im Frequenzbereich von 0 bis 300 GHz mit Studienteilnehmenden, die angaben, an EHS zu leiden. Ziel der Analyse war, die Studien hinsichtlich deren methodischen Einschränkungen zu bewerten, da die jeweils angewandte Vorgehensweise aufgrund impliziter Annahmen zu verzerrten Ergebnissen führen kann. Hierzu führten die Autoren eine «Risk of bias»-Evaluierung durch, bei der die einzelnen Studien hinsichtlich möglicher systematischer Verzerrungen bewertet wurden. Solche können beispielsweise entstehen, wenn an einer Studie auch Personen mit körperlichen Erkrankungen teilgenommen haben, die ihre EHS-Symptome erklären könnten, oder auch durch die Abfolge und Zeitdauer der angewandten Expositionsbedingungen, da diese unterschiedliche Stressniveaus mit sich bringen können. Insgesamt waren 28 Studien in die Analyse eingeschlossen, von denen 7 statistisch signifikante Zusammenhänge zwischen EMF-Expositionen und Gesundheitsauswirkungen bei an EHS leidenden Personen fanden. Dabei wurde sowohl vermehrtes wie auch vermindertes Auftreten von Symptomen bei Exposition beobachtet. 21 Studien fanden hingegen keine Anhaltspunkte dafür, dass die von den Studienteilnehmenden angegebenen gesundheitlichen Symptome in einem Zusammenhang mit EMF-Exposition standen. In 82 % der untersuchten Studien haben die Autoren die Heterogenität der Studienteilnehmenden bemängelt, da die angewandten Expositionsszenarien für manche der Teilnehmenden vermutlich nicht geeignet waren. Das könnte zu falsch negativen Ergebnissen geführt haben (d.h. eine Studie findet keinen Zusammenhang zwischen Exposition und Symptomen, obwohl dieser vorliegt), wenn Effekte nur unter ganz bestimmten Expositionsbedingungen auftreten. Die Ergebnisse der Studien mit vergleichsweise wenigen methodologischen Einschränkungen zeigen weniger häufig expositionsbedingte Effekte. Bei knapp einem Drittel der untersuchten Studien spielt der Nocebo-Effekt in Bezug auf die Symptome bei Personen mit EHS eine Rolle. Gemäss den Autoren spricht ihre Übersichtsarbeit insgesamt eher gegen einen ursächlichen Zusammenhang von EMF-Exposition und Gesundheitseffekten. Nach wie vor könne jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass es schwache Gesundheitsauswirkungen oder einige tatsächlich auf EMF reagierende Personen geben könnte. Für zukünftige Studien wird empfohlen Subgruppen zu identifizieren und insbesondere Studien bei einzelnen Personen durchzuführen.

Weitere Publikationen zur Information

ANSES-Berichte zu EMF und Gesundheit
Die französische Agence nationale de sécurité sanitaire de l’alimentation, de l’environnement et du travail (ANSES) hat Mitte 2019 zwei Berichte zum Themenbereich EMF und Gesundheit in Französisch und Englisch publiziert:
► Stellungnahme zu «Gesundheitsauswirkungen im Zusammenhang mit niederfrequenten elektromagnetischen Feldern»
► Stellungnahme zu möglichen Gesundheitsauswirkungen im Zusammenhang mit erhöhten SAR-Werten von körpernah getragenen Mobiltelefonen

ANFR-Berichte zu 5G
Ebenfalls Mitte 2019 wurden von der französischen Agence nationale des fréquences (ANFR) zwei Berichte zum Themenbereich 5G in französischer Sprache veröffentlicht:

Allgemeine Informationen zur 5G-Exposition
Erste Ergebnisse aus Messungen in 5G-Pilotprojekten (3400-3800 MHz) (siehe auch dieses Posting)

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

EHS-Studie von Schmiedchen et al. zum Schmökern

H. Lamarr @, München, Sonntag, 05.07.2020, 23:33 (vor 1620 Tagen) @ H. Lamarr

... und eine Metastudie unterzog 28 EHS-Studien ganz im Sinne von "Elektrosensiblen" einer «Risk of bias»-Evaluierung.

Die Arbeit von Schmiedchen et al. (Methodological limitations in experimental studies on symptom development in individuals with idiopathic environmental intolerance attributed to electromagnetic fields (IEI-EMF) – a systematic review) gibt es unentgeltlich hier zu lesen. Unter "et al." ist übrigens mit Sarah Driessen eine alte Bekannte (EMF-Portal) zu finden. Die Studie ist eine deutsch/norwegische-Co-Produktion. Und was ich noch nie gesehen habe, was in Sachen Transparenz aber Maßstäbe setzt: Die Peer-Reviewer und deren Kritikpunkte kann man allesamt auf dieser Seite nachlesen. Aus meiner Sicht vorbildlich. Im dritten Anlauf hat das Manuskript schließlich den Segen der Peer-Reviewer erhalten.

Wären die Vereine organisierter Mobilfunkgegner nur halb so transparent, sie könnten entweder einpacken oder es gäbe nur halb (vielleicht aber auch doppelt) soviel an den Geheimniskrämern zu beanstanden.

Hier ein kleiner Auszug aus dem Peer-Review-Bericht von Stacy Eltiti vom 6. Mai 2019:

In dieser systematischen Übersicht untersuchten die Autoren, ob Unterschiede in der Methodik, insbesondere das Risiko von Verzerrungen und Eindrücken, für unterschiedliche statistische Ergebnisse verantwortlich sein könnten. Die Einführung gab einen guten Überblick über die bisherige Forschung und war ausgewogen in der Darstellung der methodologischen Einschränkungen für Studien, die über positive und negative Effekte berichten. Die zur Auswahl der Studien und zur Extraktion der Daten verwendeten Methoden waren fundiert und klar beschrieben. Die Beschreibung der statistischen Analysen bedarf weiterer Details, und die Schlussfolgerungen könnten erweitert werden. [...]

Diese bedeutsame Studie wurde bereits im Oktober 2019 publiziert. In der Alarmstudiendatenbank EMF:data von Diagnose-Funk suche ich sie soeben vergeblich. Die Arbeit war Diagnose-Funk offensichtlich nicht alarmierend genug :no:. Noch Fragen zu dieser sogenannten "Studiendatenbank"?

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Peer-Review, EHS-Studie, Metastudie, EMF:Data

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