Forschung: Kein Erklärungsmodell für EHS überzeugt völlig (Elektrosensibilität)

H. Lamarr @, München, Dienstag, 12.05.2020, 22:57 (vor 1497 Tagen)

Der französische Soziologe Dr. Maël Dieudonné erforscht am Institut für Humanwissenschaften des Max-Weber-Centers in Lyon seit 2014 die Hintergründe von "Elektrosensibilität" (EHS). Jetzt hat der Wissenschaftler seine jüngste Arbeit publiziert, in der er die drei gängigen wissenschaftlichen Erklärungsmodelle für "Elektrosensibilität" kritisch prüft und gegeneinander abwägt. Die Arbeit hat den Titel "Electromagnetic hypersensitivity: a critical review of explanatory hypotheses" und ist im Volltext frei verfügbar.

Abstract

Background
Electromagnetic hypersensitivity (EHS) is a condition defined by the attribution of non-specific symptoms to electromagnetic fields (EMF) of anthropogenic origin. Despite its repercussions on the lives of its sufferers, and its potential to become a significant public health issue, it remains of a contested nature. Different hypotheses have been proposed to explain the origin of symptoms experienced by self-declared EHS persons, which this article aims to review.

Methods
As EHS is a multi-dimensional problem, and its explanatory hypotheses have far-reaching implications, a broad view was adopted, not restricted to EHS literature but encompassing all relevant bodies of research on related topics. This could only be achieved through a narrative approach. Two strategies were used to identify pertinent references. Concerning EHS, a complete bibliography was extracted from a 2018 report from the French Agency for Food, Environmental and Occupational Health & Safety and updated with more recent studies. Concerning related topics, the appropriate databases were searched. Systematic reviews and expert reports were favored when available.

Findings
Three main explanatory hypotheses appear in the literature: (1) the electromagnetic hypothesis, attributing EHS to EMF exposure; (2) the cognitive hypothesis, assuming that EHS results from false beliefs in EMF harmfulness, promoting nocebo responses to perceived EMF exposure; (3) the attributive hypothesis, conceiving EHS as a coping strategy for pre-existing conditions. These hypotheses are successively assessed, considering both their strengths and limitations, by comparing their theoretical, experimental, and ecological value.

Conclusion
No hypothesis proves totally satisfying. Avenues of research are suggested to help decide between them and reach a better understanding of EHS.

Übersetzung des Abstracts ins Deutsche mit www.DeepL.com/Translator (kostenlose Version) und manueller Nachbearbeitung.

Kurzfassung

Hintergrund
Elektromagnetische Hypersensitivität (EHS) ist ein Leiden, das durch die Zuordnung unspezifischer Symptome zu elektromagnetischen Feldern (EMF) menschlicher Herkunft definiert wird. Trotz ihrer Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen und ihres Potenzials, zu einem bedeutenden Problem der öffentlichen Gesundheit zu werden, ist sie nach wie vor umstritten. Es wurden verschiedene Hypothesen aufgestellt, um den Ursprung der Symptome zu erklären, die von selbstdeklarierten EHS-Personen erlebt werden und die in diesem Beitrag überprüft werden sollen.

Methoden
Da es sich bei EHS um ein mehrdimensionales Problem handelt und dessen Erklärungshypothesen weit reichende Auswirkungen haben, wurde eine weit gefasste Sichtweise gewählt, die sich nicht auf die EHS-Literatur beschränkt, sondern alle relevanten Forschungseinrichtungen zu angrenzenden Themen einbezieht. Dies konnte nur durch einen narrativen Ansatz erreicht werden. Es wurden zwei Strategien zur Identifizierung einschlägiger Referenzen angewandt. In diesem Zusammenhang wurde eine umfassende Literaturliste aus einem Bericht der französischen Agentur für Ernährung, Umwelt und Arbeitsschutz aus dem Jahr 2018 herangezogen und durch neuere Studien aktualisiert. In Bezug auf verwandte Themen wurden die entsprechenden Datenbanken durchsucht. Wenn verfügbar, wurden systematische Übersichtsarbeiten und Expertenberichte bevorzugt.

Ergebnisse
In der Literatur tauchen drei Haupthypothesen zur Erklärung auf: (1) die elektromagnetische Hypothese, die EHS einer EMF-Exposition zuschreibt; (2) die kognitive Hypothese, die davon ausgeht, dass EHS aus falschen Überzeugungen über die Schädlichkeit von EMF resultiert und Nocebo-Reaktionen auf die wahrgenommene EMF-Exposition fördert; (3) die attributive Hypothese, die EHS als eine Bewältigungsstrategie für bereits bestehende Erkrankungen versteht. Diese Hypothesen werden unter Berücksichtigung sowohl ihrer Stärken als auch ihrer Grenzen nacheinander bewertet, indem ihr theoretischer, experimenteller und ökologischer Wert verglichen wird.

Zusammenfassung
Keine Hypothese erweist sich als völlig überzeugend. Es werden Wege der Forschung vorgeschlagen, um die Entscheidung zwischen der einen oder anderen Hypothese zu erleichtern und ein besseres Verständnis von EHS zu erreichen.

Hintergrund
Fußabdrücke von Maël Dieudonné im IZgMF-Forum

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
EHS, Frankreich, Dieudonné, Narrativ, narrative Reviews

Dieudonnés Schlussfolgerung

H. Lamarr @, München, Mittwoch, 13.05.2020, 00:23 (vor 1496 Tagen) @ H. Lamarr

Dieudonné hat sich allem Anschein nach ungewöhnlich intensiv mit der EHS-Problematik auseinandergesetzt, aus meiner Sicht ist seine Arbeit wegweisend. Schon deshalb, weil er unvoreingenommen beschreibt, dass EHS keine homogene Gruppe sind, sondern aus unterschiedlichen Fraktionen bestehen, zwischen denen Welten liegen können, im IZgMF-Forum nannten wir zwei dieser Fraktionen früher einmal "echte" und "unechte" EHS. In seiner Schlussfolgerung schlägt der Franzose vor, worum sich künftige EHS-Forschung kümmern sollte, um die divergierenden Forschungsergebnisse der vergangenen 20 Jahre mit neuen Forschungsansätzen endlich zur Konvergenz zu bringen. Weil die Vorschläge substanziell sind, habe ich sie mit Hilfe von deepl.com ins Deutsche übersetzt, was stellenweise nicht ganz einfach war. Der Text ist deshalb etwas holprig zu lesen, die wesentlichen Botschaften sollten aber verständlich sein.

[...]
Schlussfolgerung

Keine der überprüften Hypothesen erweist sich als völlig tragfähig. Die Debatte über den Ursprung der Symptome, die selbstdeklarierte EHS-Personen erleben, bleibt offen, auch wenn ihre Begriffe und Auswirkungen hoffentlich klarer sind. Unter Berücksichtigung der verfügbaren Beweise lassen sich drei Wege für künftige Forschungsvorhaben ins Auge fassen, die dazu beitragen könnten, die Erklärungshypothesen zum Thema EHS zu verfeinern und zwischen ihnen zu entscheiden, wobei gleichzeitig erhebliche Lücken in der wissenschaftlichen Literatur gefüllt werden könnten. Die erste wäre die systematische Untersuchung der Symptome, Zuschreibungen und Verhaltensweisen von EHS-Personen, um festzustellen, ob alle drei miteinander verbunden sind, wie es die Attribut-Hypothese annimmt, oder ob dies nur für die Auslöser [engl. "formers"; Anm. Postingautor] gilt, wie es die kognitive Hypothese annimmt. Es geht darum, ob Meinungen über die Schädlichkeit von EMF und Überzeugungen über EHS unterschiedliche Phänomene sind, die getrennt analysiert werden sollten, und ob Verhaltensweisen ein relevanter Indikator für die Festlegung von EHS sind. Der zweite Weg wäre die Durchführung klinischer Studien zu kognitiven und verhaltenstherapeutischen Therapien mit dem Ziel der Symptomrückführung, was die beste Möglichkeit zur Linderung von EHS-Symptomen bietet, wenn die kognitive Hypothese richtig ist. Bemerkenswert ist, dass in den späten 1990er Jahren vier solcher Studien durchgeführt wurden, deren Ergebnisse zu uneinheitlich sind, um als Bestätigung oder Widerlegung dieser Hypothese interpretiert werden zu können [109]. Heute, angesichts der Verschärfung der Debatte um die EHS, würden sie wahrscheinlich vor ernsthaften Akzeptanzproblemen stehen. Der dritte Weg für zukünftige Forschung, wie oben dargelegt, würde in einem strengen Vergleich der Erfahrungen und Krankheitsverläufe von Menschen mit EHS und anderen funktionellen somatischen Syndromen bestehen. Wenn die attributive Hypothese gültig ist, sollten die einzigen Unterschiede, die sich zeigen, nur umstandsbedingt sein, d.h. EHS-Symptome könnten ebenso gut auf andere Ursachen zurückgeführt werden.

Der erste Weg könnte der dringendste sein. Nicht zu wissen, was der Kern des EHS-Phänomens ist, ist eine große Unsicherheitsquelle, die sowohl das Verständnis des Phänomens als auch die künftige Forschung behindert. Eine Möglichkeit, die in Betracht gezogen werden sollte, besteht darin, dass alle drei Erklärungshypothesen wahr sind, da sie für verschiedene Formen von EHS gelten. Dies wurde von mehreren Autoren argumentiert, die vorschlugen, zu unterscheiden zwischen (1) Personen, die sich selbst als empfindlich gegenüber einigen wenigen spezifischen Gerätschaften oder einem breiten Spektrum von Expositionsquellen erklären [75, 76], (2) Personen, die glauben, dass ihre Gesundheit durch EMF negativ beeinflusst wird, oder die sich selbst auch als EHS bezeichnen [59], oder (3) Personen, die von einer Empfindlichkeit gegenüber EMF berichten oder sich auch bei einer aktivistischen Gruppe registrieren lassen [5]. Die verfügbaren Daten deuten darauf hin, dass letztere mehr Symptome und einen schlechteren allgemeinen Gesundheitszustand haben als erstere, sich eher in Behandlung begeben, sich mehr Sorgen um ihre Gesundheit machen und mehr über Umweltempfindlichkeiten berichten. Daher könnten ihre Erkrankungen unterschiedliche Ursprünge haben, wobei die kognitive Hypothese die Symptome bloßer "Attributoren" besser berücksichtigt und die attributive Hypothese eher für "echte EHS-Personen" geeignet ist.

Es wurde eine weitere Unterscheidung zwischen drei Kategorien von Personen vorgeschlagen: "Vorsichtig, aber nicht krank" (z.B. Gesundheitsapostel des New Age mit neuzeitlichen Gesundheitsproblemen oder Protestierende gegen die Standortwahl von Basisstationen), "Krank, aber nicht vorsichtig" (z.B. Patienten mit unspezifischen körperlichen Symptomen, die sie versuchsweise EMF zuschreiben, insbesondere in Untersuchungseinrichtungen, ohne zu versuchen, ihre Exposition zu reduzieren) und "Krank und vorsichtig" (die ausreichend von der Schädlichkeit von EMF überzeugt und durch ihre Krankheit ausreichend motiviert sind, um ihre Exposition um den Preis einer Änderung ihres Lebensstils bewusst zu reduzieren) [9]. Welche Unterscheidung auch immer die geeignetste ist, wenn EHS besser verstanden werden soll, scheint es unumgänglich, einen genaueren Blick auf das zu werfen, was EHS eigentlich ausmacht.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Dieudonné: Verbrechen gegen die Menschlichkeit

H. Lamarr @, München, Mittwoch, 13.05.2020, 12:00 (vor 1496 Tagen) @ H. Lamarr

Dieudonné hat sich allem Anschein nach ungewöhnlich intensiv mit der EHS-Problematik auseinandergesetzt, aus meiner Sicht ist seine Arbeit wegweisend.

Ich hätte nun erwartet, auch "Elektrosensible" wären von der neuen Studie begeistert, weil diese EHS eben nicht kategorisch ausschließt und dem Nocebo-Effekt zuweist, sondern Wege zeigt wie sich "echte" EHS, sollte es welche geben, vielleicht doch noch von der Forschung aufspüren lassen. Doch Gigaherz-Vorständin Elisabeth Buchs, selbst überzeugte Elektrosensible, erkennt in der Studie ein "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Schade, aus meiner Sicht schlägt sie damit selbst versöhnliche neue Forschungsansätze unbegründet aus.

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