Neues von Berenis (20): März 2020 (Forschung)

H. Lamarr @, München, Samstag, 07.03.2020, 00:18 (vor 1722 Tagen)

Im Zeitraum Ende April bis Anfang August 2019 wurden 103 neue Publikationen identifiziert, von denen neun von Berenis vertieft diskutiert wurden. Sechs davon wurden gemäß den Auswahlkriterien als besonders relevant ausgewählt und werden im Folgenden zusammengefasst, darunter erste Ergebnisse der großen Cosmos-Studie.

Experimentelle Tier- und Zellstudien

Gibt es Hinweise für eine Schädigung des Erbmaterials durch Millimeterwellen? (Koyama et al. 2019)
In dieser kleinen aber technisch gut gemachten Studie sind Koyama und Kollegen (2019) der Frage nachgegangen, ob hochfrequente EMF im Millimeterwellenbereich, die möglicherweise in Zukunft für 5G eingesetzt werden, zu einer Schädigung der Erbsubstanz führen. In ihren Experimenten haben die Autoren menschliche Augenzellen (Hornhautepithel- und Linsen-Zellen) einem unmodulierten 40 GHz Millimeterwellen-EMF bei 10 W/m² Leistungsdichte (entspricht dem Ganzkörpergrenzwert) für 24 Stunden ausgesetzt. Untersucht wurden danach einerseits DNS-Schäden im Zellkern mittels Kometen-Analyse und andererseits die Bildung von sogenannten Mikrokernen, die durch fehlerhafte Reparaturereignisse und/oder Probleme bei der Replikation der DNS entstehen können. Für beide Analyse-Verfahren haben die Autoren keine signifikanten Veränderungen in den zwei getesteten Zelltypen festgestellt. [...]

Globale Suche nach Biomarkern für Millimeterwellen-Exposition (Le Pogam et al. 2019)
Die Zellkulturstudie von Le Pogam et al. (2019) wird hier in erster Linie wegen ihres neuartigen hypothesenfreien experimentellen Ansatzes vorgestellt, der so noch nie für HF-EMF eingesetzt wurde. Menschliche Hautzellen (Keratinozyten) wurden für 24 Stunden einem 60.4 GHz HF-EMF bei hoher Leistungsdichte (200 W/m² = 20 Mal höher als Ganzkörpergrenzwert) ausgesetzt. Im Anschluss wurde die Gesamtheit der kleinen metabolischen Moleküle (Metabolom) und der fettähnlichen Stoffe (Lipidom) mittels Massenspektrometrie analysiert. Dabei wurde zwischen Molekülen ausserhalb (extrazellulär, Nährmedium und ausgeschleuste) und innerhalb (intrazellulär) der Zelle unterschieden. Durch diesen Ansatz konnten mehr als 15'000 Moleküle reproduzierbar detektiert werden, was einen guten Überblick der gesamten Stoffwechselaktivität gibt. Ungefähr 2'600 davon waren in der bioinformatischen Analyse mehr als zweifach verändert und können als potentielle Biomarker für Millimeterwelleneffekte angesehen werden. Allerdings kann rein durch die Bestimmung der Masse nur ein kleiner Teil der Moleküle eindeutig identifiziert werden, und die relativen Veränderungen waren generell nicht sehr stark ausgeprägt. [...] Auffallend viele potentielle metabolische Biomarker wurden im Nährmedium gefunden, was die Autoren als Indiz für eine erhöhte Durchlässigkeit der Zellmembran durch die Exposition mit Millimeterwellen interpretieren. Diese Erklärung macht biologisch gesehen durchaus Sinn, und Beobachtungen über Veränderungen von Kanalaktivitäten durch Befeldung wurden auch früher gemacht. Allerdings fehlt eine Kontrolle, die zeigt, dass diese Resultate nicht durch direkte thermische Effekte zustande gekommen sind, da bei dieser hohen Leistungsdichte eine signifikante Erwärmung entsteht. [...]

Niederfrequente Magnetfelder und neuronale Differenzierung (Özgün et al. 2019)
In der Studie von Özgün et al. (2019) wurden Effekte von NF-MF auf die neuronale Differenzierung untersucht, deren zelluläre Signalwege diverse Parallelen zur Neurodegeneration haben. Die Hypothese dieser Studie war, dass die neuronale Differenzierung beeinflusst wird durch Proteine, die sensitiv auf Magnetfelder reagieren, wie Ionenkanäle oder Transferrin. Neuronale Vorläuferzellen wurden für fünf Tage differenziert während sie einem niederfrequenten Magnetfeld (1 mT, 50 Hz) ausgesetzt waren. Die Differenzierung war unter Magnetfeldexposition effizienter, was sich in verstärktem Auswachsen von Neuriten (Fortsätzen von Nervenzellen) sowie dem Auftreten von neuronalen Markern zeigte. [...]

Hochfrequente elektromagnetische Felder und neuronale Differenzierung (von Niederhäusern et al. 2019)
Die Studie von Niederhäusern et al. (2019) untersuchte wie bereits die Studie von Özgün et al. (2019, siehe oben) EMF-Effekte auf die neuronale Differenzierung, in diesem Fall von Neuroblastom-Zellen. Der Fokus lag hier auf dem Einfluss eines HF-EMF (935 MHz, 4 W/kg, 217-Hz pulsmoduliert, für 24 Stunden mit jeweils abwechselnd zwei Minuten Exposition und Pausen dazwischen). Neben zellulären Signalwegen, die in Differenzierung und Neurodegeneration involviert sind, wurde auch oxidativer Stress und eine daraus resultierende mögliche Beeinflussung der Zellatmung untersucht. Beeinträchtigungen der mitochondrialen Funktionen sind für neurodegenerative Erkrankungen wie
Alzheimer oder Parkinson beschrieben. HF-EMF hatten einen Einfluss auf die Differenzierung in neuronalen Zellen, und es wurde ein Trend zu einer verstärkten Aktivierung der Proteine ERK1/2 und Akt (involviert in Differenzierung) beobachtet (nicht signifikant). Proteine des Wnt-Signalweges wurden nicht HF-EMF-abhängig reguliert. HF-EMF-Exposition hatte keinen Effekt auf die mitochondriale Atmung unter physiologischen Bedingungen. Bei Stress durch Glukose-Entzug im Medium war die maximale Zellatmung in HF-EMF-exponierten Zellen gehemmt. Dieser Effekt wurde dadurch unterstützt, dass HF-EMF vermehrt oxidativen Stress (gemessen via GSH-Konzentration) in
der Zelle produzierten. Mitochondriale Marker für Fusion und Fission von Mitochondrien, welche für die Aktivität dieser Zellorganellen zuständig sind, wurden durch HF-EMF-Exposition nicht beeinflusst.Unter physiologischen Bedingungen wurden lediglich Trends für eine Beeinträchtigung der neuronalen Differenzierung beobachtet. [...]

Epidemiologische Studien

Erste Ergebnisse der internationalen Kohortenstudie zu Handynutzung und Gesundheit (COSMOS-Studie) in Schweden und Finnland (Auvinen et al. 2019)
Ein grosser Teil der bisher durchgeführten epidemiologischen Studien zu den gesundheitlichen Risiken von HF-EMF durch Handynutzung basiert auf retrospektiv erhobenen Nutzungsdaten. Studienteilnehmer werden hierbei zu ihren Nutzungsgewohnheiten hinsichtlich Dauer und Häufigkeit von Handytelefonaten befragt, die oft jahrelang zurückliegen. Dies kann zu einer systematischen Verzerrung einer Studie durch das unterschiedliche Erinnerungsvermögen von gesunden und kranken Studienteilnehmenden führen. Keinen solchen Bias gibt es in der seit 2007 prospektiv durchgeführten internationalen Kohortenstudie COSMOS, aus der nun erste Ergebnisse von über 24'000 Teilnehmenden aus Schweden und Finnland vorliegen (Auvinen et al. 2019). Dabei wurden Daten zur Mobiltelefonnutzung bereits zu Beginn der Studie mittels Fragebogen erfasst. Zusätzlich wurden bei Studienbeginn während drei Monaten objektive Daten zur Gesprächsdauer auf dem GSM-(2G)- und UMTS-(3G)-Netz von den Mobilfunkanbietern gesammelt. Vier Jahre später füllten die Studienteilnehmer Fragebögen aus, mit denen erhoben wurde, ob sie an Symptomen wie Kopfschmerzen, Tinnitus oder Hörverlust litten. Hinsichtlich Tinnitus und Hörverlust ergab die Studie keine Hinweise auf Zusammenhänge. Die Teilnehmergruppe mit den längsten Gesprächszeiten (>276 min/Woche) berichtete 13% häufiger als Wenig-Nutzer, seit dem Start der Studie neu wöchentlich an Kopfschmerzen zu leiden. Die Expositions-Wirkungsbeziehung war knapp nicht-signifikant (p=0.06). Der Zusammenhang war tendenziell ausgeprägter für UMTS-Nutzung (OR=1.16, 95% Konfidenzintervall: 0.93-1.46) als für GSM-Nutzung (1.06, 95% KI: 0.89-1.26).

Grosse Stärken dieser Studie sind neben dem erwähnten prospektiven Ansatz die sehr grosse Anzahl von Studienteilnehmenden und die Verwendung von objektiven Daten der Mobilfunkanbieter. Dass der Zusammenhang mit Kopfschmerzen vor allem bei Telefonierenden im UMTS-Netz bestand und nicht bei Telefonierenden im GSM-Netz, spricht laut Autoren gegen eine ursächliche Rolle von HF-EMF. Beim Telefonieren im älteren GSM-Netz ist man rund 100- bis 500-Mal stärker exponiert als beim UMTS-Netz [1] und entsprechend wären höhere Risiken bei GSM-Nutzung zu erwarten, wenn die Kopfschmerzen durch HF-EMF ausgelöst worden wären. Somit erscheint es wahrscheinlicher, dass andere, nicht bekannte Faktoren, welche mit intensiver Mobiltelefonnutzung korrelieren, eine Rolle für das Neuauftreten von Kopfschmerzen spielen.

[1] Gati A, Hadjem A, Wong MF, Wiart J (2009): Exposure induced by WCDMA mobiles phones in operating networks. IEEE Transactions on Wireless Communications 2009; 8 (12): 5723-5727. https://ieeexplore.ieee.org/document/5351684

Niederfrequente Magnetfeldexposition durch Hochspannungsleitungen und neurodegenerative Erkrankungen in Norditalien (Gervasi et al. 2019)
Ziel der Fall-Kontroll-Studie von Gervasi et al. (2019) war die Untersuchung eines möglichen Zusammenhangs der Exposition mit niederfrequenten Magnetfeldern von Hochspannungsleitungen und dem Auftreten neurodegenerativer Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson in der Region von Mailand (Italien). Als Mass für die Exposition wurde dabei der Abstand der Wohnadresse zu einer Hochspannungsleitung (>30kV) verwendet. In die Studie eingeschlossen wurden zwischen 2011-2016 diagnostizierte Fälle (Alzheimer: n = 9'835, Parkinson: n = 6’810) und jeweils etwa vier Kontrollpersonen pro Patient. Die Autoren beobachteten dabei ein tendenziell leicht erhöhtes Erkrankungsrisiko für Personen, die weniger als 50 m entfernt von einer Hochspannungsleitung wohnten, im Vergleich zu Personen, deren Wohnadresse 600 m oder mehr von einer Hochspannungsleitung entfernt war. Die gefundenen Zusammenhänge waren aber statistisch nicht signifikant. [...]

Übersichtsarbeiten

Alltagsexposition mit hochfrequenten elektromagnetischen Feldern in Europa: eine aktualisierte systematische Übersichtsarbeit (Jalilian et al. 2019)
Im Mai 2019 erschien eine systematische Übersichtsarbeit von Jalilian et al. (2019), in der die Alltagsexposition mit HF-EMF in Europa aus den bis Juli 2018 veröffentlichten Publikationen zum Thema zusammengetragen wurde. Zuhause, in Schulen und in Büros lag die durchschnittliche Exposition zwischen 0,04 und 0,76 V/m, und im Freien zwischen 0,07 und 1,27 V/m. Der Hauptbeitrag stammt im Allgemeinen von Mobilfunkbasisstationen. Mit zunehmender Urbanität nimmt die Exposition zu. In Wohnungen ist die Exposition im Durchschnitt geringer als 0,3 V/m. Am höchsten ist die Exposition in öffentlichen Verkehrsmitteln (0,5 V/m und höher). Die Studie fand keinen Hinweis, dass die Exposition zwischen 2012 und 2016 angestiegen ist.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Alzheimer, Exposition, Comet-Assay, Oxidativer Stress, COSMOS, BERENIS, Millimeterwellen, Mitochondrien

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