Neues von Berenis (19): Dezember 2019 (Forschung)
Im Zeitraum Februar bis April 2019 wurden 112 neue Publikationen identifiziert, von denen neun von Berenis vertieft diskutiert wurden. Vier davon wurden gemäss den Auswahlkriterien als besonders relevant und somit zur Bewertung ausgewählt und werden im Folgenden zusammengefasst. Darüber hinaus werden in dieser Ausgabe einige Studien vorgestellt, die Zusammenhänge von Mobilfunknutzung und strahlungsunabhängigen gesundheitlichen Auswirkungen bei Jugendlichen untersuchen.
Experimentelle Tier- und Zellstudien
Hochfrequente elektromagnetische Felder und Fertilität bei männlichen Ratten (Shahin et al. 2019)
In der Studie von Shahin et al. (2019) wurden Effekte von HF-EMF (GSM 900 MHz, 1.075 W/kg Ganzkörper-SAR) auf die Fertilität von männlichen Ratten untersucht. Die Tiere waren für 2 Stunden pro Tag und insgesamt 8 Wochen HF-EMF- oder scheinexponiert. Das Polyamin Spermin wurde eingesetzt, um allfällige Effekte von HF-EMF auf funktionelle, morphologische oder biochemische Marker zu verhindern und somit die Beweisführung zu stärken. [...] Die Ergebnisse zeigen, dass die HF-EMF-Exposition die Spermienzahl sowie deren Lebensfähigkeit und Motilität signifikant vermindert und die Anzahl pathologischer Spermienformen erhöht. [...] Diverse biochemische Parameter, die im Zusammenhang mit oxidativer Degradation von Lipiden, Entzündung, Apoptose und oxidativem Stress stehen, wurden ebenfalls untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass HF-EMF diese Parameter fördert und DNS-Schädigungen im Hoden initiiert. [...] Die angegebene Ganzkörperexposition von 1,075 W/kg ist deutlich über dem Immissionsgrenzwert für die Bevölkerung (0,08 W/kg).
Humanexperimentelle Studien
Hochfrequente elektromagnetische Felder und Ruhe-EEG: Thermischer Effekt? (Loughran et al. 2019)
Es ist eine anhaltende Kontroverse, ob die beobachteten Effekte von HF-EMF-Exposition auf das Wach-EEG (Elektroenzephalogramm) im Ruhezustand rein thermischer Natur sind oder ob ein noch nicht bekannter biologischer Mechanismus zugrunde liegt. Diese Frage ist von Relevanz für die Grenzwertdiskussion. In der Studie von Loughran et al. (2019) wurden 36 Probanden (18 weibliche, 18 männliche) GSM-artigen Feldern (920 MHz; Kontrolle (SAR 0 W/kg); mittel (maximaler SAR: 1 W/kg); stark (2 W/kg)) ausgesetzt. Die Probanden mussten einen Anzug mit Wasserperfusion (34 °C) tragen, um die Oberflächentemperatur der Haut während des Experiments konstant zu halten und einen Einfluss der Umgebungstemperatur auszuschliessen. Lediglich die Hände und der Kopf waren frei. Auf eine 16-minütige Kontrollmessung (Baseline) folgte jeweils eine 30-minütige Exposition. Die drei Bedingungen wurden im Wochenabstand getestet (randomisiert und doppelblind). Unter dem starken Feld war die Alpha Aktivität im EEG am Ende der Exposition erhöht. Um die Thermoregulation zu verfolgen, wurde die Temperatur des linken Mittelfingers gemessen. Nach der Baseline nahm die Temperatur zunächst etwas ab. Am Ende der Exposition mit tiefem Feld war die Fingertemperatur signifikant höher als in der Kontrollbedingung. [...] Die Autoren sind der Meinung, dass ihre Studie einen klaren Hinweis auf einen thermischen Mechanismus liefert. Dies ist allerdings eine Überinterpretation der Ergebnisse, zumal die Statistik teilweise fraglich ist und die Resultate inkonsistent sind, da nur die schwache Exposition eine signifikante Temperaturerhöhung zeigte. Hingegen wurde der EEG-Effekt bei der starken Exposition beobachtet, und ein Zusammenhang zwischen der Temperaturveränderung und dem EEG-Effekt wurde nicht gezeigt.
Epidemiologische Studien
Geburtsdefekte und Exposition der Mutter gegenüber niederfrequenten Magnetfeldern (Auger et al. 2019)
In einer gross angelegten kanadischen Studie wurden die Geburten zwischen 1989 und 2016 in Spitälern der Provinz Quebec im Hinblick auf mütterliche niederfrequente Magnetfeldexposition untersucht. Die geokodierte Distanz des Wohnortes zur nächsten Hochspannungsleitung (≥120kV) oder Transformerstation wurde als Expositionsmass verwendet. Insgesamt wurden 2'164'246 Kinder in die Analyse miteingeschlossen und dabei 123'575 Geburtsdefekte beobachtet. Am häufigsten waren Klumpfüsse (29'192), nichtkritische Herzfehler (19'718) und Störungen des urogenitalen Systems (15'853). [...] Mütter, welche zum Zeitpunkt der Geburt weniger als 200 Meter von einer Hochspannungsleitung oder einem Transformator entfernt lebten, hatten ein 2 % bzw. 5 % höheres Risiko für ein Kind mit einem Geburtsdefekt. Dabei war das Risiko im Umkreis von 50 Metern nicht höher als im Abstand von 200 Metern von einer Hochspannungsleitung. [...] Allerdings ist die Distanz zu einer Hochspannungsleitung oder einem Transformator ein suboptimales Expositionsmass. NF-MF-Exposition ist vor allem im Umkreis von 50 Metern von Höchstspannungsleitungen erhöht (≥220 kV). Für die entsprechende Gruppe wurde leider keine solche Analyse gemacht und daher ist die Expositionsmissklassifikation beträchtlich. Dass im Umkreis von 50 Metern von allen Leitungen das Risiko nicht höher war als im Umkreis von 200 Metern deutet aber dennoch darauf hin, dass NF-MF keinen Effekt auf Geburtsdefekte hat.
Zusammenhang zwischen mütterlichem Mobiltelefongebrauch in der Schwangerschaft, Dauer der Schwangerschaft und Wachstum des Fötus (Tsarna et al. 2019)
In einer gemeinsamen Analyse der Daten von vier Kohortenstudien aus Dänemark (1996-2002), Holland (2003-2004), Spanien (2003-2008), und Südkorea (2006-2011) wurde untersucht, ob mütterliche Mobiltelefonnutzung während der Schwangerschaft mit der Dauer der Schwangerschaft oder dem fötalen Wachstum assoziiert ist. Insgesamt wurden Daten von 55'507 schwangeren Frauen berücksichtigt. Es wurde unterschieden zwischen keiner Mobiltelefonnutzung (30'433 Mütter), geringer Nutzung mit maximal einem Anruf pro Tag (12'930), mittlerer Nutzung mit 1-3 Anrufen pro Tag (8'270) und starker Nutzung mit mindestens 4 Anrufen pro Tag (3'874). Es wurde ein statistischer Expositions-Wirkungszusammenhang für kürzere Schwangerschaften und für Frühgeburten, definiert als Geburt vor der 36. abgeschlossenen Schwangerschaftswoche, beobachtet. Die entsprechenden Risikozunahmen waren 2 % und 28 % für Mütter mit starker Nutzung im Vergleich zu Müttern mit geringer Nutzung. Hinsichtlich fötalem Wachstum und Geburtsgewicht wurde kein Zusammenhang gefunden. Die Autoren schreiben, dass Mobilfunknutzung während der Schwangerschaft ein Indikator für den Stress der Mutter sein könnte und daher die gefundenen Zusammenhänge auch darauf statt auf die Mobilfunkstrahlung zurückzuführen sein könnten. [...] Eine Schwäche der Studie ist, dass 94 % der Mütter erst sieben Jahre nach der Schwangerschaft Auskunft über ihre Mobilfunkbenutzung gaben. Die Exposition des Fötus während eines mütterlichen Telefonats ist sehr gering und es ist unklar wie eine solch geringe Mobilfunkstrahlung den Fötus beeinflussen kann. Für die Exposition des Fötus ist wahrscheinlich relevanter wie lange und häufig ein Mobiltelefon in der Nähe des Bauchs getragen wird. Diese Daten lagen aber nicht vor. [...]
Mobilfunknutzung und Symptome bei Jugendlichen: nicht strahlenbedingte Zusammenhänge
Digitale Mediennutzung kann prinzipiell die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen auf vielfältige Art und Weise beeinflussen. Neben potentiellen Wirkungen der HF-EMF sind auch andere Auswirkungen als Begleiterscheinung der digitalen Mediennutzung denkbar. Beispiele hierfür sind etwa die Folgen von nächtlichem Aufwachen wegen des eigenen Handys, Blaulicht vom Bildschirm sowie die Folgen von extensiver Zeit am Bildschirm oder in den sozialen Medien. Studien zu diesem Themenbereich sind für die Zielsetzung von Berenis im Prinzip nicht prioritär, und wurden bisher nie für einen Newsletter ausgewählt. In der letzten Zeit sind aber einige qualitativ gute Studien zu diesem
Thema erschienen. Aus diesem Grund wird stellvertretend für den ganzen Forschungsbereich im Folgenden eine Auswahl davon kurz vorgestellt.
► In einer kalifornischen prospektiven Kohortenstudie bei 2'587 Jugendlichen im Alter von 15-16 Jahren ohne ADHS-Symptome (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) wurde festgestellt, dass die Wahrscheinlichkeit innerhalb von zwei Jahren ADHS-Symptome zu entwickeln signifikant vom Ausmass der digitalen Mediennutzung abhing. Studienteilnehmende mit der stärksten digitalen Mediennutzung entwickelten rund doppelt so häufig ADHS-Symptome wie Jugendliche mit geringer digitaler Mediennutzung (Ra et al. 2018).
► In einer spanischen Querschnittstudie bei 226 Jugendlichen im Alter von 17-18 Jahren wurde ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen problematischer Mobiltelefonnutzung (anhand standardisiertem Fragebogen) und reduzierter subjektiver sowie objektiver Schlafqualität beobachtet. Die objektive Schlafqualität wurde mittels Aktimeter erhoben. Weiter wurde festgestellt, dass mit zunehmendem Tabletgebrauch die Schlafeffizienz verringert und die Dauer der Wachphasen nach dem Einschlafen erhöht waren (Cabré-Riera et al. 2019).
► In einer prospektiven Kohortenstudie von 4'333 chinesischen Hochschulstudenten zeigte sich, dass Studenten, die angaben, täglich vier Stunden oder mehr ein Mobiltelefon zu benutzen, innerhalb von 8 Monaten signifikant häufiger Schlafstörungen und mentale Gesundheitsprobleme entwickelten (Liu et al. 2019).
► In einer prospektiven Kohortenstudie von 843 Jugendlichen im Alter von 12-15 Jahren aus der Schweiz wurde beobachtet, dass nächtliches Aufwachen bedingt durch das eigene Handy zu einer Zunahme von Schlaf- und Konzentrationsproblemen führte. Auch wurde festgestellt, dass Jugendliche mit überdurchschnittlicher Bildschirmzeit ein rund 2,5-mal grösseres Risiko für Einschlafprobleme hatten, sowie mit grösserer Wahrscheinlichkeit eine Reihe von weiteren unspezifischen Gesundheitsproblemen entwickelten (Foerster et al. 2019).
► In einer irischen Studie mit 1'626 Teilnehmenden im Alter von 6-7 Jahren sowie 12-13 Jahren hatten Kinder mit mehr als 3 Stunden Bildschirmzeit pro Tag ein 3,7-fach erhöhtes Risiko für Kurzsichtigkeit (Harrington et al. 2019).
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –
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