Smart Meter treiben Stromrechnung angeblich in die Höhe (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Montag, 09.07.2018, 21:43 (vor 2136 Tagen)

Um Smart Meter (intelligente Zähler) in Privathaushalten ranken sich viele Gerüchte, die allermeisten davon haben einen Wahrheitsgehalt in homöopathischer Dosis. Gigaherz-Präsident Jakob fügt in seinem Forum am 8. Juli 2018 neuen Käse hinzu, indem er über Smart Meter (hier Stromzähler) behauptet:

Erste Erfahrungen aus Florida zeigen, dass dabei für die Stromkunden die Stromrechnungen um 30% steigen.

Soso.

Wie üblich belegt Jakob seine Behauptung nicht mit einer Quelle, nicht einmal mit einer trüben. Also habe ich versucht, das, was Jakob ungeniert öffentlich ausschwitzte, irgendwo im www zu finden. Denn in den USA wurden Smart Meter, anders als in Europa, bereits vor ungefähr zehn Jahren in großem Stil eingeführt und deshalb ist es schon seltsam, dass erst jetzt "erste Erfahrungen" vorliegen sollen.

Um es kurz zu machen, eine ernst zu nehmende Quelle für die Behauptung konnte ich nicht finden, unseriöse Quellen in Gestalt von Anti-Smart-Meter-Vereinen hingegen schon. Einer dieser schrägen Vereine in den USA heißt "Stop Smart Meters!" und genauso wie bei vielen Anti-Mobilfunk-Vereinen sind auch bei diesem Verein kommerzielle Interessen unübersehbar (hier Verkaufsanzeigen für Messgeräte, die man nicht braucht).

Möglicherweise hat sich Jakob bei diesem Verein bedient, denn eine Seite von dessen Webauftritt kümmert sich um "Billing Issues", also um Abrechnungsprobleme mit Smart Metern. Eines der dort angesprochenen Probleme lautet "Is it true that you bill goes up after getting a “smart” meter?" (Stimmt es, dass nach dem Einbau eines Smart Meters die Rechnung höher ausfällt?). Das ist, weil so schön simpel, typischer Speck, mit dem man besonders dumme Mäuse fängt. Tatsächlich ist die anschließend als Beleg für höhere Rechnungen zitierte Umfrage (PDF, 35 Seiten, englisch) an Dilettantismus kaum zu überbieten. Denn nicht etwa ein seriöses Meinungsforschungsinstitut fragte US-Stromkunden nach ihren Erfahrungen mit Smart Metern, sondern ein anderer schräger Verein, der auf den Namen EMFSafetyNetwork.org hört und der, wen wundert es noch, ebenfalls einen Shop betreibt, um besonders dummen Mäusen das Geld aus der Tasche zu luchsen. Von einer neutralen Meinungsumfrage kann unter diesen Umständen keine Rede sein. Entsprechend fragwürdig sind die Ergebnisse, die auf maximal nur 443 Teilnehmern im Jahr 2011 beruhen. In der Zusammenfassung heißt es, 35 Prozent der Teilnehmer berichteten von höheren Rechnungen. Eine wertlose Zahl, da keinerlei Begleitfaktoren abgefragt wurden. War z.B. das Jahr, in dem jemand ein Smart Meter bekam deutlich wärmer als das Jahr zuvor, ließe sich die höhere Rechnung leicht auf die Kosten der Klimaanlage zurückführen. Doch für solche Begleitfaktoren interessierte sich das EMFSafetyNetwork nicht. Auf Seite 20 des PDFs werden Details der Fragen zur Rechnungshöhe genannt, etwa dass nur 174 Stromkunden an diesem Teil der Umfrage teilgenommen haben, dass bei rd. 2,3 Prozent dieser Teilnehmer die Rechnungssumme nach dem Einbau eines Smart Meters geringer ausfiel, rd. 25 Prozent keinen Unterschied feststellen konnten und rd. 38 Prozent nicht imstande waren zu sagen, ob sie nach dem Einbau für den Strom nun mehr oder weniger bezahlen mussten.

Wie die Teilnehmer an der Umfrage rekrutiert wurden wird in dem PDF nicht verraten. Doch es gibt ein Indiz, dass nicht unvoreingenommene Stromkunden gefragt wurden, was korrekt gewesen wäre, sondern Sympathisanten der Anti-Smart-Meter-Szene. Erkennbar wird dies auf Seite 11 des PDFs. Dort wird allen Ernstes behauptet, rd. 49 Prozent (!) von 439 teilnehmenden Personen hätten die Frage bejaht, sie oder ein anderes Mitglied ihres Haushalts seien "elektrosensibel". Besser lässt sich ein "Selection Bias" dieser Umfrage nicht dokumentieren.

Damit lasse ich's jetzt gut sein, jede weitere Beschäftigung mit dieser Umfrage für Dumme oder Leichtgläubige wäre – mit Verlaub – Zeitvergeudung. Die organisierte Desinformation, die aus der Anti-Mobilfunk-Szene hinlänglich bekannt ist, sie ist auch in der Anti-Smart-Meter-Szene allgegenwärtig, die bedauernswerten Opfer ertrinken in einem Meer an Fake News, ohne dies selbst wahrzunehmen. Gesetze schützen die Dummen, nicht aber diejenigen, die zu bequem sind, sich kritisch (verantwortungsbewusst) zu informieren, bevor sie öffentlich den Mund aufmachen oder den Geldbeutel für unnötigen Schnickschnack öffnen.

Wer die Nase noch nicht voll hat kann sich diesen Artikel (englisch) eines freien Journalisten gönnen, in dem wenigstens auch einmal ein Versorger (PG&E) zu Wort kommt und z.B. erklärt, dass die Prüfung von mehr als 400 Beschwerden wegen zu hoher Rechnungen in keinem einzigen Fall ein Versagen der Smart-Meter-Technik ergab. Das kann man nun gut und gerne in Zweifel ziehen, doch solange das Gegenteil nicht bewiesen ist, darf die Behauptung des Versorgers als wahr gelten. Für Herrn Jakobs Behauptungen gilt diese Unschuldsvermutung schon lange nicht mehr, dafür wurde der Gigaherz-Präsident viel zu häufig beim Lügen oder Irren erwischt.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

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Fake-News


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