Opferkult: Ich leide, also bin ich (Elektrosensibilität)
Immer mehr Menschen sehen sich selbst als Opfer oder identifizieren sich mit welchen. Der Grund ist rechts wie links der gleiche: Man scheitert an den eigenen Ansprüchen.
Auszug aus Zeit-Online vom 27. Mai 2018:
[...] Die aggressive Hypersensibilität, die das gegenwärtige gesellschaftliche Klima mitbestimmt, gedieh zuerst unter postmodernen Linken. Im Namen einer immer stärker moralisch aufgeladenen Identitätspolitik konstruieren sie verschiedene Opfergruppen, mit denen sie sich im Tonfall persönlicher Betroffenheit identifizieren. Wer ihnen widerspricht, hat nicht selten mit einer moralischen Empörung zu rechnen, die Andersformulierende zu Feinden ernennt. Menschen aus dem eher rechten Spektrum hingegen inszenieren sich gerne als Opfer ebendieser Minderheiten oder als Opfer jener "Linken", die diese Minderheiten verteidigen.
Ein Beispiel aus eigener Perspektive: Vor ein paar Wochen warf ich bei einer Facebook-Diskussion über den Gebrauch des N-Wortes die Frage auf, ob es nicht falsch sei, das Wort "Neger" in allen alten Texten durch "N-Wort" zu ersetzen. Damit hatte ich offenbar das moralisch Erlaubte überschritten: Ich hatte "das N-Wort gedropped". Ein Kontakt blockierte mich sofort. Andere Teilnehmerinnen meinten, meine Meinung als weißer Mann sei hier nicht gefragt (alle Diskussionsteilnehmer waren Weiße). Man sprach über Schwarze, nicht mit ihnen, und man interessierte sich auch nicht für eine Rede der afroamerikanischen Nobelpreisträgerin Toni Morrison, in der sie das Ersetzen des Wortes "Negro" in alten Texten als heuchlerisches "White-Washing" bezeichnet.
Die Eskalation solcher Diskussionen ist bemerkenswert: Wer den höchsten moralischen Anforderungen eines immer genauer definierten Opferschutzes nicht folgt, ist nicht nur zu wenig aware und soll sich selbst educaten – er oder sie zählt bereits zu den Mittätern, über die man sich aggressiv empören darf. Natürlich finden solche Debatten selbst in den USA in überschaubaren Blasen statt. Sie strahlen von dort aber in größere Teile der Gesellschaft und bestimmen Debatten inhaltlich und formal, wie beispielsweise Daniele Giglioli in seinem Buch Die Opferfalle darlegt. [...]
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